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Bibliotheca Hertziana [Hrsg.]; Bruhns, Leo [Gefeierte Pers.]; Wolff Metternich, Franz [Gefeierte Pers.]; Schudt, Ludwig [Gefeierte Pers.]
Miscellanea Bibliothecae Hertzianae: zu Ehren von Leo Bruhns, Franz Graf Wolff Metternich, Ludwig Schudt — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 16: München: Schroll, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.48462#0377

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Berninis Hl. Longinus

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mit den beiderseits aufgeschlagenen Muschelschalen. Über natürlicheres, freieres Körperspiel hinaus
trachtete Bernini nach einer gesteigerten Ausdrucksfigur in fixierter Bewegung.
Dadurch daß sich Longinus in seinen größten Längen und Transversalen auseinanderlegt, tritt er mit
dem Nischengrund in Vergleich: vor dessen senkrechten Streifen zeichnet sich der zuckende Umriß mit
geschärfter Prägnanz ab, ebenso der Auftrieb der Arme vor dem waagrechten Gebälk, das sie in Schulter-
höhe schräg überkreuzen; vollends wachsen aneinander die Dehnung der Figur und der Schwellraum der
Nische, beide von demselben großen Atem geweitet - Analogie zwischen Organismus und Bauform
schwebte Bernini später bei der Linienführung der Kolonnaden vor.
Zwar berührt sich die Longinusstatue ihrem allgemeinen Typus nach mit römischen Caesarenfiguren, die
Bernini in Gemeinschaft mit Alessandro Algardi 1630 durch die Ehrenstatue des Carlo Barberini auf dem
Kapitol nach voraufgegangenen Beispielen wie derjenigen für Francesco Aldobrandini (1602) nahe-
gerückt wurden27. Aber die sensationelle Erscheinung des Longinus lebt davon, daß die geraden Strecken
von durchgehenden Bewegungsimpulsen angespannt sind. Eine Affektregung durchstrahlt den Körper
bis in seine Endigungen mit Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit eines extremen. Bewegungsbildes28.
Longinus erreicht eine Leistungsgrenze, und dies einigt ihn außer mit dem ,,Triton“ (Barberinibrunnen)
auch vor ihm mit „David“ und „Daphne“.
In diesen brillanten, scharf durchdachten Schöpfungen der Zwanziger] ahre hatte Bernini Beispielhaftes
verwirklicht. Von ihrem Pathos ergriffen wird ihr Schwung auf die Spitze getrieben, hart an der Grenze
des Umschlagens. Deshalb sollte man ihre Aktion nicht schlechthin transitorisch nennen, erreicht sie
doch vielmehr einen Gipfel, wo wie auf dem Scheitelpunkt eines Pendelschlags eine Schwebelage ein-
tritt, ein Moment der Balance zwischen Anlauf und Umkehr. Auf der Höhe eines Umschwungs wirkt der
Verlauf wie angehalten, mitten im Vollzug aufgefangen und zum Stehen gebracht. Auf diese Moment-
wahl der Ruhe oder des Unbewegtseins aus heftigster Bewegtheit heraus ist es zurückzuführen, daß diesen
Gestalten Berninis ebensoviel Schnellkraft wie „Halt“ innewohnt: Augenblicke des Innehaltens und der
Stabilisierung bei ausladender Spannweite, der empfindliche Zustand einer Wende, der im Bildwerk
Dauer bekommen hat29. Dabei hat Bernini im Gefolge Caravaggios und des Annibale Carracci die Lebens-
äußerung, auf die jede dieser Figuren leidenschaftlich konzentriert ist und in der sie aufgeht, unmittelbar
aus dem Thema ersonnen und mit seinem objektiven Wahrheitsstreben der Charakterisierung der Person,
geradezu ihrer Wesensdeutung dienstbar gemacht - wie Bellori an den Carraccifresken der Galleria
Farnese zu rühmen fand: ,, . . . in tanta moltitudine di figure vivono i sensi e le passioni di ciascuna.“30
Daphne und David durchleben eine echte Krisis, in ihrer kulminierenden Bewegung drängt sich Schick-
salhaftes zusammen: für die jungfräuliche Daphne ihre Metamorphose, für den jugendlichen David sein
Sieg als Schleuderer. Beide leben dar, was ihre Bestimmung ausmacht, ihre Wesenserfüllung wird
realisiert und erstarrt zum Bilde31. Der zugespitzte, scheinbar so flüchtige Moment birgt Bleibendes und
weist über sich hinaus auf fortdauerndes Sein.
27 G. A. Borboni: Delle Statue in Roma. Roma 1661, 287-321; R. Wittkower: Bernini, 191, Nr. 27. Der Longinus-Bozzetto
verrät auch in einer Einzelheit wie dem gedrehten Wulst des Mantels Einfluß eines antiken Musters von der Art der vatikanischen
Claudiusstatue oder der Augustusstatue ebenda (Nr. 550).
28 Wenn es zulässig ist, die Voraussetzungen für den Longinus auf Bewegungsbilder vom Typus des Leinbergerschen Georg und
Christophorus (Münchner Frauenkirche, A. Feulner, u. Th. Müller: Geschichte der deutschen Plastik. München 1953,
331 ff., und Katalog der Leinberger-Stethaimer-Ausstellung in Landshut 1932, Nr. 160) auszudehnen, sähen wir in Berninis
Gestaltung Antikisches durch Spätgotisches hindurchgegangen und davon durchglüht. Von daher der Parallelismus zwischen
Berninis Longinus und dem Zürnschen Sebastian in Karlsruhe (Zeitschr. d. Dt. Ver. f. Kunstw. 1943, 83). Auch Lodovico Car-
raccis Hl. Rochus - Bologna, Pinakothek (H. Bodmer: Lod. Carracci. Burg b. M. 1939, 127, Nr. 30, „um 1602-1605“), sollte
nicht außer Betracht bleiben.
29 Das Wagnis auf des Messers Schneide hat Bernini paradigmatisch formuliert in der Zeichnung des Herkules, der den Obelisken
balanciert (Brauer-Wittkower : Die Zeichnungen des G. L. Bernini. Berlin 1931, S. 143 und Tfl. 110-112): gerade soweit
gekantet, daß seine Diagonale lotrecht steht, kann er in dieser labilen Stellung verharren. Das Spannende liegt in der genauen
Grenzlage, in dem Herausgehobensein aus einem Bewegungsprozeß, im Verweilen bei scheinbarer Gefährdung; die physikalische
Pointe eines motorischen Experiments.
30 Bellori: Vite 1728, 32; nahezu gleichlautend in der Vita des Al. Algardi (S. 156) über dessen Attilarelief: ,,e tutte le figure
sono animate nella proprietä degli affetti loro.“
31 Ähnliche Gedanken hat jüngst R. Wittkower: Art and Architecture in Italy 1600 to 1750. The Pelican History of Art. London
1958, 96ff. ausgesprochen. - In diesem Zusammenhang darf an A. W. Schlegels Auseinandersetzungen mit Winckelmann und
 
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