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Bibliotheca Hertziana [Hrsg.]; Bruhns, Leo [Gefeierte Pers.]; Wolff Metternich, Franz [Gefeierte Pers.]; Schudt, Ludwig [Gefeierte Pers.]
Miscellanea Bibliothecae Hertzianae: zu Ehren von Leo Bruhns, Franz Graf Wolff Metternich, Ludwig Schudt — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 16: München: Schroll, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.48462#0425

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Guarini

421

An einer öfters angeführten Stelle seines Traktats16 rühmt er das gotische System wegen seiner kon-
struktiven Kühnheit und bemerkt, wie es die tatsächliche Stärke der tragenden Teile hinter einer
Gliederung verbirgt, die den Anschein wunderbarer Leichtigkeit hervorruft. Das Beispiel dieser technisch
überlegenen Bauweise hat, so sagt er, die „römische“ Architektur in neuerer Zeit ermutigt, Kuppeln auf
Pfeilern zu erhöhen. Indem er hier eine historische Stilsynthese aufzeigt, tut Guarini selbst einen ent-
sprechenden Schritt und wendet das gotische Verfahren auf seine eigenen Bauten an. Erstrebt ist ein
lichter Gerüstbau wie aus entschwerter Materie. Er wird getragen von möglichst verdünnten Pfeilern,
deren verbleibende Masse von Säulen dicht umstellt ist, die ähnlich wie Dienste und Rippen mit den über
ihnen ins Gewölbe emporführenden Bandstreifen für das Auge ein Spiel idealer Kraftlinien erzeugen.
Die Wand wird durch Ornament oder, wie in S. Lorenzo in Turin (Abb. 302), durch Inkrustation ihrer
Körperlichkeit enthoben; auf den späten Grundrissen erscheint sie wie zur Zellhaut verdünnt. Die so
gewonnene durchsichtige Leichtigkeit des Gefüges dient der gelenkigen Gruppierung und Durchdringung
der Raumvolumina, der Substanz der „architettura moderna“ also.
Die Elemente der künstlerischen Bildung müssen mit denen der Wahl in der Pariser Zeit zur Synthese
zusammengetreten sein. Messina17 war ein Vorspiel, angesichts der Gotik erst kommt Guarini zu sich.
Ste. Anne-la-Royale (Abb. 296, 297) ist sein erster programmatisch zu nennender Entwurf. Mit seinem
kuppeltragenden griechischen Kreuz, dem vom wandbetonenden Pilaster besetzten starken Mauerwerk
steht dieser Zentralbau der Körperform Italiens noch nahe. Aber schon ist alles schlanker hochgeführt und
von Vertikalzügen überspannt. Alsbald tritt auch das Leitmotiv guarinesker Bauvorstellung auf, das wir
den Lichtturm nennen wollen, die Zusammenfassung des Gesamtraums unter eine überhoch aufgeführte
Kuppel, die sich in ein lichtstrahlendes Gehäuse verwandelt. Hier ist es noch eine Kuppel nach klassischer
Art, aber sie zeigt innen einen von gekuppelten Säulen getragenen Umgang, hinter dem sich die Fenster
verbergen, einen Raummantel also. Dies ist eine auffallende Neuerung; sie zielt offenbar auf Umsetzung
der Tambourwand in eine Diaphanstruktur hin. Entsprechend löst sich auch die Kalotte in ein aus den
Säulen emporgehendes Bandgeflecht auf, das in der Mitte ein Achteck offenläßt. In diesem Rahmen
sollten sich die Rippen einer zweiten darüber gesetzten Schale als Sternmuster abzeichnen.
Die Doppelkuppel mit indirekter Beleuchtung tritt anschließend bei Mansart auf, der sie schon vorher
in Treppenhäusern tastend anwendet18. Dort wie hier deutet die Hochführung des Innenraums, der bei
Guarini eine abgetreppte Aufstockung außen entspricht, auf den nordischen Turm hin, der aufsteigt,
während sich noch die schlankste italienische Kuppel krönend herabläßt. Die Zentralbauentwürfe der
„Architettura Civile“ erinnern näherhin an die schlanken, abgestuften Vierungstürme und die im.
Innern steil aufgehenden Oktogone, wie sie Oberitalien seit dem Mittelalter besitzt. Die innen herum-
gehende Galerie ist dort seit den romanischen Baptisterien heimisch.
Was sich in Ste. Anne ankündigt, ist in S. Lorenzo in Turin19 erfüllt. Dieser Bau, dessen Anschauung
uns für so vieles nur Entworfene oder Verlorene entschädigen muß, stellt in das Quadrat einer vorge-
fundenen Planung eine Architektur ein, die wie auf stabartigen Stützen schwebend ihr Gewölbe empor-
hebt (Abb. 302). Über dem Sprengring erscheint in unbestimmter Höhe ein lichtdurchstrahltes Rad aus
Bandgeflecht, achtstrahlig, in dessen offener Nabe nochmals von höher oben ein beleuchtetes Sternmuster
aufglänzt (Abb. 304). So ist gleichsam die gotische Rose an die Decke über dem schattigen Raum geworfen,
der Zodiakus über der Cappella Chigi zum selbstleuchtenden Zeichen verwandelt. Wer macht sich klar,
wenn er es nicht weiß, daß zur Erzeugung dieses Anblicks ein steinernes Gerüst aufgeboten ist, noch einmal
so hoch wie die ganze Sockelzone unten bis zum Kuppelring (Abb. 298)1 Mit nicht geringeren Mitteln
wird in der Cappella della S. Sindone20 vorgegangen (Abb. 299). Der Altar mit der Reliquie des Schweiß-
18 AC, S. 133: „Dell’Ordine Gotico.“ Nennt die Kathedralen von Sevilla, Salamanca, Reims, Paris, Mailand, Bologna, Siena.
,,E da questi esempj, credo, ehe resa piü ardimentosa 1’Architettura Romana abbi finalmente osato di sollevare le Cupole sopra
quattro Pilastri, come giä se ne veggono, oltre la prima di Firenze, e poi S. Pietro a Roma, torreggiare molte altre, ed in Roma,
e per molte Cittä d’Italia.“ G. erkennt die Schlankheit als historisches Stilideal der Gotik. Dazu noch AC, S. 7, 83, 87.
17 W. Hager, G.s Theatinerfassade usw., vgl. Anm. 1.
18 Projekt F. Mansarts zur Chapelle des Bourbons in Saint-Denis 1665. Dieses wurde zum Vorbild für St. Paul’s in London mit
seiner mehrstufigen Kuppel. J. Hautecoeur, Hist, de l’arch. dass, en France II/l, 1948, S. 71. Mansarts Treppenhaus in Blois
1635 und das in Maisons-Laffitte 1642 ebda, S. 30. 19 AC, Taf. 4-6.
20 AC, Taf. 2-3. — M. Passanti, La Real Cappella della S. Sindone in Torino. Rassegna Municip. Torino, 1941, S. 3,
 
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