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Bibliotheca Hertziana [Editor]; Bruhns, Leo [Honoree]; Wolff Metternich, Franz [Honoree]; Schudt, Ludwig [Honoree]
Miscellanea Bibliothecae Hertzianae: zu Ehren von Leo Bruhns, Franz Graf Wolff Metternich, Ludwig Schudt — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 16: München: Schroll, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.48462#0431

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Guarini

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aus demKreise abgeleiteten regelmäßigen Vielecke anstatt des zeitüblichen Ovals. Dies ist die absoluteste,
die in sich geschlossenste Anlageform, und sie schließt alle Zwischenstufen, alles Vermittelnde am ent-
schiedensten aus. Als Bernini an dem Pariser Bau das Fehlen einer Schwelle tadelte, traf er mit sicherem
Blick jene Schlüsselstelle, an der der grundlegende Unterschied der Auffassung Guarinis von der seinigen
sich ausweist. Dieser betrifft den Realitätsbezug und damit den eigenen Realitätswert des Kunstwerks.
Berninis Form ist von der organischen Natur abgeleitet und auf sie hin offen; diejenige Guarinis bildet
ein naturfremdes, autonomes System29.
So wirken denn seine Bauten auch vorwiegend nach innen gekehrt. Ihre Außengestalt ergibt sich mit
einer gewissen Achtlosigkeit aus den auf das Innere bezogenen Anordnungen ; man sagt ihr einen Mangel
an eigener Erfindung nach. Gebilde wie die Spitze der Turiner Domkapelle behalten etwas Befremdliches,
Bizarres, um das alte Tadelwort einmal zu gebrauchen. Die Ansichten der Gebäude auf den Bildtafeln
des Traktats liefern nicht die geringste Andeutung einer Situation. Die Paläste allerdings zeigen nach
außen fraglose Monumentalität. Aber der gebietende Block des Collegio dei Nobili in Turin schließt sich
in so streng abweisende Fronten ein wie nur irgendein Palast des Manierismus, und der mächtige Palazzo
Carignano greift ebenso wenig ins Offene aus, sondern windet seine Masse in introvertierter Dramatik
zu einem Ovalkern zusammen. Durch Musterung der Oberflächen ist ihm viel von seiner natürlichen
Schwere genommen; zu seinem Vorplatz hat er kein Verhältnis30. Die entschieden auswärts gekehrten
Gebilde, wie Fassaden, Stadttore, Altaraufsätze, werden aus fragmentierten Hohlkörpern, aus Zellen-
wandsegmenten zusammengesetzt. Denkt man sich diese angebrochenen Körper ergänzt, so wird der
vor dem Altar liegende Raum zwar umgegriffen; sinnlich vorstellbar ist eine solche Ergänzung jedoch
nicht, denn das System ist rein ideal und nur in dem tatsächlich vorhandenen reliefartigen Fragment
gestaltbar. Und dennoch strahlt es unsichtbare Kreisbahnen aus. Diese rotieren, es bleibt kein andrer
Schluß, nicht im Realraum, sondern in einem hermetischen Raum künstlerischer Imagination. Ein
Beispiel ist uns erhalten. Der Hochaltaraufsatz von S. Niccolö in Verona31 ist in eine gleichzeitige Dekora-
tion von anderer Hand nicht ungeschickt eingestellt. Aber die Wirkung ist, als spielten zwei Orchester
in verschiedener Tonart. Das guarineske Gebilde stößt sich an seiner Umgebung. Isoliert man es sich aber
betrachtend, so entsendet es in völligem Fürsichsein ein polyphones Kurvenspiel.
Die Auffassung von der Fremdheit des Kunstwerks in seiner Umwelt wird Guarini aus seiner Beschäfti-
gung mit Borromini geschöpft haben, der seinerseits durch sie an der Wurzel seines Schaffens mit dem
Manierismus verbunden ist. Unter den bildhaft inszenierten, kraftvoll raumgreifenden Barockbauten Roms
stehen die Gebäude dieses Meisters eigentümlich unbeteiligt und in sich zurückgezogen da. Ihr Aufbau
setzt durch Veränderungen und Vertauschungen der Glieder und ihrer Funktionen die tektonische Logik
der formal beibehaltenen klassischen Ordnungen außer Kraft und ersetzt sie durch eine freie rhythmische
Ordnung. In den kalt anmutenden Formen wie im Ornament scheint das organische Leben erstorben.
Diese Architektur trägt ihren Maßstab in sich und bestimmt ihre Verhältnisse selbst. Das enge Innere
von S. Carlino nimmt eine bedeutende, aber schlechthin unbestimmbare Ausdehnung an. Der Kuppelbau
von S. Ivo überträgt das auf Menschenmaß abgestimmte Volumen des Sapienzahofs in eine höher poten-
zierte Bewegung und wirbelt es endlich in der Spirale wie einen Rauch empor. Die Front von Berninis
S. Andrea al Quirinale ist ganz und gar Eingang; behutsam werden wir zwischen auffangende Arme und
weiter ins wohlräumige Innere geleitet, das sich im Altarbau als Bild zusammenfaßt. Hart und unver-
mittelt steht dagegen die Wellenform der benachbarten Fassade von S. Carlino am Straßenrand, wie
absichtlich von keiner Stelle aus hinreichend überschaubar. Der vorbeistreichende Straßenzug wird
von ihrer Schwingung nicht berührt, aber der ganze Bereich von Quattro Fontane vibriert von ihrer
Gegenwart. Der hermetischen Form ist die physische Umgreifung ihres Umraums versagt; ihre Wirkung
auf ihn ist darum aber nicht geringer.
Guarini hat die ihm von Borromini überkommene Beziehung zum Manierismus durch eigene Rückgriffe
auf das Cinquecento, besonders auf die Tradition Michelangelos verstärkt. Nicht von Borrominis Grund-
rissen führt ja, wie gezeigt wurde, der Weg zu seiner Raumkombinatorik, die eine Raumerfahrung durch
beständig angeregte Umherbewegung bewirken will. Dieses Verfahren ist vielmehr vorgebildet in dem
29 Hierzu die meisterhafte Definition der Architektur G.s von G. C. Argan, L’Architettura barocca in Italia, 1957, S. 61.
30 Der Vorplatz war ursprünglich kleiner als heute, das Gesagte gilt aber für beide Zustände.
31 AC, Taf. 22. Dazu Portoghesi, II tabernacolo Guariniano usw., a. a. O.
 
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