MODERNE KUNST.
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LXX.
DER BRIEETRÄGBR KOMMT!
VON
EDUARD THIEL.
! und hat sich bisher durch Damenporträts und Genrebilder bekannt gemacht,
von welchen letzteren eine grosse Pastellstudie „Nach dem Bade“ und ein
holländisches Interieur „Vom Markte zurück“ genannt seien. In den letzten
Jahren wandte er sich dem Illustrationsfach zu, trat 1885 als artistischer
Beistand in die Redaktion der Zeitschrift „Ueber Land und Meer“ ein und
siedelte in diesem Jahre nach Charlottenburg über. Sch.
Eduard Thiel.
Obschon er selten aus dem stillen
Provinzialstädtchen herausgekommen,
der alte Briefträger, hat er sich doch
im Laufe der Jahre eine ziemlich gründ-
liche Menschenkenntnis erworben, um
die ihn mancher hochgelahrte Professor
beneiden könnte, der seinem andächtig
lauschenden Auditorium die tiefsten
Probleme der Psychologie mit dem ihm
eigenen Scharfsinne klarlegt. Von Allen
fast, mit denen ihn sein mühseliger
Beruf in Berührung bringt, ist ihm gar
trefflich kund, wess Geistes Kind sie
sind, und aus den mannichfaltigen Beobachtungen, die ihm der Zutritt in
ihre vier Wände eröffnet, ergeben sich ihm unschwer die verschiedenen
Kategorien, in welche die wohllöblichen Insassen des Ortes nicht nur nach
Stellung oder Geschäft, sondern auch nach Denk- und Sinnesart, ja sogar
nach ihren persönlichen Verhältnissen einzureihen. Die Mienen, mit welchen
der Adressat die Postsendungen aus seiner Hand entgegen nimmt, bilden
eine sichere Grundlage für die Schlussfolgerungen des empirischen Philosophen;
so hätte er schon vor Jahr und Tag voraussagen können, wie es mit dem
vielbeneideten Bankier am Altmarkt enden werde, der jüngst durch seinen
Bankrott Hunderte um ihre saueren Ersparnisse brachte und noch lange
den Mittelpunkt der Stadtgespräche bilden wird, und von den Redakteuren
der drei Lokalblättchen, die sich alltäglich auf Leben und Tod bekämpfen,
Weiss er, wiewohl kein Zeitungsleser und Politiker, doch ganz genau, wessen
Partei im bevorstehenden Wahlturnei am meisten Aussicht hat. Dass der
Herr Bürgermeister gegenwärtig von seinem Aeltesten, der sich „Studien
halber“ in Göttingen aufhält, sehr wenig erbaut ist, kann er eidlich erhärten
auf Grund der Blicke, mit welchen der Lenker der städtischen Geschicke
im letzten Drittel des Monats die von dort einlaufenden Briefe empfängt,
und dass es Amtsrichters Henriette bei ihren grossstädtischen Verwandten
sehr gut gefallen muss, ist mit nicht geringerer Sicherheit aus den Trink-
geldern und Cigarren zu folgern, die bei Aushändigung ihrer Briefe und
Packetchen abfallen.
Auch in dem dritten Stock da droben, nach dem er heute seine
Schritte lenkt, ist er seit etlichen Monaten eine sehr willkommene Erscheinung,
der im Dienst Ergraute; hat doch das schmucke Riekchen, das er hat
aufwachsen sehen, nun auch seinen Schatz gefunden, der es demnächst
holen will, um sich mit ihm ein Nestchen zu bauen; nur wenige Wochen
liegen noch dazwischen, und es ist noch so viel zu thun an der Ausstattung,
so dass Mutter und Schwester tüchtig mithelfen müssen, damit sie fertig
Werde, zumal man sich mit der Nähmaschine hier noch nicht befreundet
hat. Ein eigenes Glück waltet in dem bescheidenen, sauberen Stübchen
und lässt den' Stoff zur Unterhaltung nicht ausgehen. Doch seit der letzte
Brief aus der Residenz kam, sind schon ganze zehn Tage vergangen, und
von der Schwester gab’s gar manche Neckerei darob zu hören. Allein
der liebe Heinrich hat ja soviel zu schaffen und kann nicht alle Tage
schreiben wie vornehme Leute, bei denen die Zeit keine Rolle spielt. . . .
Aber gestern war Sonntag, und richtig, da biegt der sehnlich erwartete
Briefträger um die Ecke. Ob er indes auch was bringt ? „Ach, bilde dir
doch keine Schwachheiten ein,“ sagt die lose Schwester — doch da schaut
er herauf mit vielsagendem Lächeln, wohl wissend, dass seinen alten
Beinen der grössere Teil der sechundsechzig Treppenstufen erspart bleibt.
Eduard Thiel, dem wir das liebenswürdige Genrebild verdanken, ward
am 12. August 1855 zu Camanten in Ostpreussen geboren, empfing seine
Ausbildung zuerst an der Berliner Akademie bei Paul Thumann, später
bei dem rühmlich bekannten Genre- und Historienmaler Löfftz in München
LXXI.
DIB GRÜNDUNG DER
UNIVERSITÄT HEIDELBERG
VON
FERDINAND KELLER.
och stehen sie in frischem Gedächtnis, die herz- und geist-
erhebenden Festtage, die im Sommer des vorigen Jahres
in der herrlichen Neckarstadt aus allen Teilen des deut-
schen Vaterlandes wie aus weiter Ferne fröhliche Scharen
herbeilockten, um teilzunehmen an einer Feier, deren
Bedeutung weit über die badischen Grenzen hinausreichte.
■ Galt sie doch der ältesten unter den deutschen Hoch-
schulen, die in den 500 Jahren ihres Bestehens eine
Hauptpflegstätte der Wissenschaft, in den trüben Zeiten
der Ohnmacht und Zersplitterung ein fester Hort des
nationalen Gedankens gewesen, dem in unseren Tagen
eine so glorreiche Verwirklichung beschieden war. Die
hervorragende Rolle, die Heidelberg in der Reformationsgeschichte spielte,
die schweren Drangsale, die es im dreissigjährigen Kriege und später durch
die Mordbrenner des „allerchristlichsten“ Königs Ludwigs XIV. zu erleiden
hatte, welche den herrlichen Schlossbau, die edelste Perle der deutschen
Renaissance, zur Ruine umwandelten — das alles verleiht der einzigen
Stadt für jeden Vaterlandsfreund einen weihevollen Nimbus, und selbst
der flüchtige Besucher nimmt von ihr und ihrer paradisischen Umgebung
Eindrücke mit von dannen, die unauslöschlich in seiner Erinnerung fort-
leben. Wie begreiflich erscheint daher vollends die Begeisterung derer,
die sich im vorigen Jahre in den Mauern der alten Neckarstadt zusammen-
fanden, wo sie als jugendfrohe Musenjünger den Grund zu ihrer späteren
Lebensarbeit gelegt und im trauten Verkehr mit gleichgestimmten Genossen
den Genien der Freude und der poetischen Schwärmerei ihren Tribut
entrichtet! Kein anderes Land der Erde kennt sie, diese Poesie des
Studententums, die über den ganzen späteren Lebensweg ihren verklärenden
Schimmer ausbreitet und alle mit einem festen Band umschlingt, mag auch
die alte Burschenherrlichkeit dreissig, fünfzig und noch mehr Semester weit
zurückliegen.
Dass neben den tönenden Künsten, denen das Jubelfest der altehr-
würdigen Ruperto-Carola so reichen Spielraum darbot, auch die bildenden
ihre Ehre darein setzten, ihr Bestes zur Verherrlichung des berühmten
Musensitzes beizutragen, bezeugt für alle Zeit das grosse Wandgemälde,
welches Ferdinand Keller, ein Sohn des badischen Landes, für die Aula
der Heidelberger Universität geschaffen hat und welches in echt monu-
mentalem Stile die Stiftung der Hochschule veranschaulicht. Den, Mittel-
punkt des Ganzen bildet verdientermassen die Gestalt des pfälzischen Kur-
fürsten Ruprechts I., jenes trefflichen Fürsten, der zwar keiner gelehrten
Bildung teilhaftig, aber eine überaus praktisch und tüchtig angelegte Natur,
ein Mann von energischem Willen war, der sein Land nicht nur zu ver-
grössern, sondern das Erworbene auch umsichtig zu erhalten verstand, der
inmitten einer unruhigen Zeit unablässig auf Zucht und Ordnung und auf
die Wohlfahrt seines Volkes bedacht war, im Reiche allgemein verehrt
als ein Musterbild fürstlicher Milde und Gerechtigkeit, und der vor allem
durch die Gründung der Heidelberger Universität sich einen dauernden
Ehrenplatz iu der deutschen Kulturgeschichte gesichert hat. In den
würdigen Zügen des greisen Herrschers, den die Vertreterin der Musen-
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DER BRIEETRÄGBR KOMMT!
VON
EDUARD THIEL.
! und hat sich bisher durch Damenporträts und Genrebilder bekannt gemacht,
von welchen letzteren eine grosse Pastellstudie „Nach dem Bade“ und ein
holländisches Interieur „Vom Markte zurück“ genannt seien. In den letzten
Jahren wandte er sich dem Illustrationsfach zu, trat 1885 als artistischer
Beistand in die Redaktion der Zeitschrift „Ueber Land und Meer“ ein und
siedelte in diesem Jahre nach Charlottenburg über. Sch.
Eduard Thiel.
Obschon er selten aus dem stillen
Provinzialstädtchen herausgekommen,
der alte Briefträger, hat er sich doch
im Laufe der Jahre eine ziemlich gründ-
liche Menschenkenntnis erworben, um
die ihn mancher hochgelahrte Professor
beneiden könnte, der seinem andächtig
lauschenden Auditorium die tiefsten
Probleme der Psychologie mit dem ihm
eigenen Scharfsinne klarlegt. Von Allen
fast, mit denen ihn sein mühseliger
Beruf in Berührung bringt, ist ihm gar
trefflich kund, wess Geistes Kind sie
sind, und aus den mannichfaltigen Beobachtungen, die ihm der Zutritt in
ihre vier Wände eröffnet, ergeben sich ihm unschwer die verschiedenen
Kategorien, in welche die wohllöblichen Insassen des Ortes nicht nur nach
Stellung oder Geschäft, sondern auch nach Denk- und Sinnesart, ja sogar
nach ihren persönlichen Verhältnissen einzureihen. Die Mienen, mit welchen
der Adressat die Postsendungen aus seiner Hand entgegen nimmt, bilden
eine sichere Grundlage für die Schlussfolgerungen des empirischen Philosophen;
so hätte er schon vor Jahr und Tag voraussagen können, wie es mit dem
vielbeneideten Bankier am Altmarkt enden werde, der jüngst durch seinen
Bankrott Hunderte um ihre saueren Ersparnisse brachte und noch lange
den Mittelpunkt der Stadtgespräche bilden wird, und von den Redakteuren
der drei Lokalblättchen, die sich alltäglich auf Leben und Tod bekämpfen,
Weiss er, wiewohl kein Zeitungsleser und Politiker, doch ganz genau, wessen
Partei im bevorstehenden Wahlturnei am meisten Aussicht hat. Dass der
Herr Bürgermeister gegenwärtig von seinem Aeltesten, der sich „Studien
halber“ in Göttingen aufhält, sehr wenig erbaut ist, kann er eidlich erhärten
auf Grund der Blicke, mit welchen der Lenker der städtischen Geschicke
im letzten Drittel des Monats die von dort einlaufenden Briefe empfängt,
und dass es Amtsrichters Henriette bei ihren grossstädtischen Verwandten
sehr gut gefallen muss, ist mit nicht geringerer Sicherheit aus den Trink-
geldern und Cigarren zu folgern, die bei Aushändigung ihrer Briefe und
Packetchen abfallen.
Auch in dem dritten Stock da droben, nach dem er heute seine
Schritte lenkt, ist er seit etlichen Monaten eine sehr willkommene Erscheinung,
der im Dienst Ergraute; hat doch das schmucke Riekchen, das er hat
aufwachsen sehen, nun auch seinen Schatz gefunden, der es demnächst
holen will, um sich mit ihm ein Nestchen zu bauen; nur wenige Wochen
liegen noch dazwischen, und es ist noch so viel zu thun an der Ausstattung,
so dass Mutter und Schwester tüchtig mithelfen müssen, damit sie fertig
Werde, zumal man sich mit der Nähmaschine hier noch nicht befreundet
hat. Ein eigenes Glück waltet in dem bescheidenen, sauberen Stübchen
und lässt den' Stoff zur Unterhaltung nicht ausgehen. Doch seit der letzte
Brief aus der Residenz kam, sind schon ganze zehn Tage vergangen, und
von der Schwester gab’s gar manche Neckerei darob zu hören. Allein
der liebe Heinrich hat ja soviel zu schaffen und kann nicht alle Tage
schreiben wie vornehme Leute, bei denen die Zeit keine Rolle spielt. . . .
Aber gestern war Sonntag, und richtig, da biegt der sehnlich erwartete
Briefträger um die Ecke. Ob er indes auch was bringt ? „Ach, bilde dir
doch keine Schwachheiten ein,“ sagt die lose Schwester — doch da schaut
er herauf mit vielsagendem Lächeln, wohl wissend, dass seinen alten
Beinen der grössere Teil der sechundsechzig Treppenstufen erspart bleibt.
Eduard Thiel, dem wir das liebenswürdige Genrebild verdanken, ward
am 12. August 1855 zu Camanten in Ostpreussen geboren, empfing seine
Ausbildung zuerst an der Berliner Akademie bei Paul Thumann, später
bei dem rühmlich bekannten Genre- und Historienmaler Löfftz in München
LXXI.
DIB GRÜNDUNG DER
UNIVERSITÄT HEIDELBERG
VON
FERDINAND KELLER.
och stehen sie in frischem Gedächtnis, die herz- und geist-
erhebenden Festtage, die im Sommer des vorigen Jahres
in der herrlichen Neckarstadt aus allen Teilen des deut-
schen Vaterlandes wie aus weiter Ferne fröhliche Scharen
herbeilockten, um teilzunehmen an einer Feier, deren
Bedeutung weit über die badischen Grenzen hinausreichte.
■ Galt sie doch der ältesten unter den deutschen Hoch-
schulen, die in den 500 Jahren ihres Bestehens eine
Hauptpflegstätte der Wissenschaft, in den trüben Zeiten
der Ohnmacht und Zersplitterung ein fester Hort des
nationalen Gedankens gewesen, dem in unseren Tagen
eine so glorreiche Verwirklichung beschieden war. Die
hervorragende Rolle, die Heidelberg in der Reformationsgeschichte spielte,
die schweren Drangsale, die es im dreissigjährigen Kriege und später durch
die Mordbrenner des „allerchristlichsten“ Königs Ludwigs XIV. zu erleiden
hatte, welche den herrlichen Schlossbau, die edelste Perle der deutschen
Renaissance, zur Ruine umwandelten — das alles verleiht der einzigen
Stadt für jeden Vaterlandsfreund einen weihevollen Nimbus, und selbst
der flüchtige Besucher nimmt von ihr und ihrer paradisischen Umgebung
Eindrücke mit von dannen, die unauslöschlich in seiner Erinnerung fort-
leben. Wie begreiflich erscheint daher vollends die Begeisterung derer,
die sich im vorigen Jahre in den Mauern der alten Neckarstadt zusammen-
fanden, wo sie als jugendfrohe Musenjünger den Grund zu ihrer späteren
Lebensarbeit gelegt und im trauten Verkehr mit gleichgestimmten Genossen
den Genien der Freude und der poetischen Schwärmerei ihren Tribut
entrichtet! Kein anderes Land der Erde kennt sie, diese Poesie des
Studententums, die über den ganzen späteren Lebensweg ihren verklärenden
Schimmer ausbreitet und alle mit einem festen Band umschlingt, mag auch
die alte Burschenherrlichkeit dreissig, fünfzig und noch mehr Semester weit
zurückliegen.
Dass neben den tönenden Künsten, denen das Jubelfest der altehr-
würdigen Ruperto-Carola so reichen Spielraum darbot, auch die bildenden
ihre Ehre darein setzten, ihr Bestes zur Verherrlichung des berühmten
Musensitzes beizutragen, bezeugt für alle Zeit das grosse Wandgemälde,
welches Ferdinand Keller, ein Sohn des badischen Landes, für die Aula
der Heidelberger Universität geschaffen hat und welches in echt monu-
mentalem Stile die Stiftung der Hochschule veranschaulicht. Den, Mittel-
punkt des Ganzen bildet verdientermassen die Gestalt des pfälzischen Kur-
fürsten Ruprechts I., jenes trefflichen Fürsten, der zwar keiner gelehrten
Bildung teilhaftig, aber eine überaus praktisch und tüchtig angelegte Natur,
ein Mann von energischem Willen war, der sein Land nicht nur zu ver-
grössern, sondern das Erworbene auch umsichtig zu erhalten verstand, der
inmitten einer unruhigen Zeit unablässig auf Zucht und Ordnung und auf
die Wohlfahrt seines Volkes bedacht war, im Reiche allgemein verehrt
als ein Musterbild fürstlicher Milde und Gerechtigkeit, und der vor allem
durch die Gründung der Heidelberger Universität sich einen dauernden
Ehrenplatz iu der deutschen Kulturgeschichte gesichert hat. In den
würdigen Zügen des greisen Herrschers, den die Vertreterin der Musen-