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I. Einleitung
Anforderungen des Amtes erfüllte. Das Problem der sündigenden Bischöfe war
ein immer wiederkehrendes Thema auf Konzilien des Frühmittelalters6.
Gerbert von Reims, der die Rede Seguins komponierte, führte diese Verweise
auf das Kirchenrecht aus einem Fundus an gelehrtem Wissen an, der seinen
geistlichen Zeitgenossen wohlvertraut war. Die Verweise sollen deutlich ma-
chen, dass für die Verurteilung von Bischöfen aufgrund ihres ministeriums be-
sondere Maßstäbe gelten mussten — so sollten sie etwa nicht wie andere Majes-
tätsverbrecher zum Tode verurteilt werden. Andererseits darf mit dieser be-
sonderen Stellung aber kein Amtsmissbrauch, keine „Allmacht" oder Willkür
gerechtfertigt werden. Bischöfe müssen also kontrolliert werden. Gerbert spricht
damit das Spannungsverhältnis zwischen Person und Amt an. Ein Vergehen
eines Amtsinhabers, der sich seines hohen Amtes als nicht würdig erwies, nennt
er gemäß dem Sprachgebrauch im bischöflichen Diskurs „Sünde". Das gilt auch
für politische Vergehen wie Verrat und Treuebruch.
Mit diesen Reflexionen über Person und Amt des Bischofs rekurriert Gerbert
jedoch nicht nur auf gelehrtes Wissen, das wenigen Experten bekannt ist, son-
dern auch auf zu Grunde liegendes soziales Wissen über Bischöfe, das im
9. Jahrhundert im Frankenreich entwickelt und verbreitet worden ist7. Als so-
ziales Wissen wird in Anlehnung an die Wissenssoziologie das in einer Gesell-
schaft verankerte Wissen über die Welt, über die rechte Ordnung verstanden, das
von sozialen Gruppen normativ anerkannt wird. Wissen existiert nicht ohne
Gesellschaft, die gesellschaftliche Wirklichkeit wird erst durch soziales Wissen
konstituiert. Das gelehrte Wissen wäre ohne eine Kategorisierung und Anpas-
sung in einen sozialen Kontext bedeutungslos, da es beliebig bliebe. Es würde
sich nicht aus der schier endlosen Masse an Kanones und Konzilsbeschlüssen
herausheben. Doch durch die Einpassung in das soziale Wissen über Bischöfe
und ihre gesellschaftlich/politisch relevanten Aufgaben in der Gesellschaft (d. h.
sie haben ein von Gott verliehenes Amt, mit dem eine bestimmte Verantwortung
verbunden ist, sie müssen am Jüngsten Tag Rechenschaft ablegen vor Gott für die
Ausübung ihres Amtes), wird es relevant in Machtfragen. Wer produziert dieses
Wissen und kann darüber so verfügen, dass es bei anderen auf Akzeptanz stößt?
In unserem Kontext heißt das: wem sind die Bischöfe auf Erden Rechenschaft
schuldig? Wie geht man mit einem sündigen Bischof um und wer ist hierfür
zuständig?
Dieses Wissen und der dadurch hergestellte Diskurs (Sünde, Beichte, Buße,
Rekonziliation) waren auch in Konflikten zwischen Königen und Bischöfen re-
levant. Diese Verbindung von Wissen und Macht wird besonders im Kontext der
Bischofsabsetzungen greifbar, und dies liegt an dem mehrdimensionalen Cha-
rakter des Bischofsamtes. Die Bischöfe hatten in dem politischen Gefüge des
9. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle inne. Sie waren ohne Zweifel politische
6 Vgl. auch Hohenaltheim 916, c. 5. Es scheint sich laut dem Editor Ernst-Dieter Hehl um einen
schon beinahe sprichwörtlichen Vorwurf gegenüber Bischöfen gehandelt zu haben (MGH Cone.
VI,2, S. 396 in Anm. 73).
7 Dazu grundlegend die Arbeit von Steffen Patzold zu Wissen über Bischöfe im Frankenreich
(Patzold, Episcopus), bes. S. 39-41; Landwehr, Das Sichtbare, S. 71.
I. Einleitung
Anforderungen des Amtes erfüllte. Das Problem der sündigenden Bischöfe war
ein immer wiederkehrendes Thema auf Konzilien des Frühmittelalters6.
Gerbert von Reims, der die Rede Seguins komponierte, führte diese Verweise
auf das Kirchenrecht aus einem Fundus an gelehrtem Wissen an, der seinen
geistlichen Zeitgenossen wohlvertraut war. Die Verweise sollen deutlich ma-
chen, dass für die Verurteilung von Bischöfen aufgrund ihres ministeriums be-
sondere Maßstäbe gelten mussten — so sollten sie etwa nicht wie andere Majes-
tätsverbrecher zum Tode verurteilt werden. Andererseits darf mit dieser be-
sonderen Stellung aber kein Amtsmissbrauch, keine „Allmacht" oder Willkür
gerechtfertigt werden. Bischöfe müssen also kontrolliert werden. Gerbert spricht
damit das Spannungsverhältnis zwischen Person und Amt an. Ein Vergehen
eines Amtsinhabers, der sich seines hohen Amtes als nicht würdig erwies, nennt
er gemäß dem Sprachgebrauch im bischöflichen Diskurs „Sünde". Das gilt auch
für politische Vergehen wie Verrat und Treuebruch.
Mit diesen Reflexionen über Person und Amt des Bischofs rekurriert Gerbert
jedoch nicht nur auf gelehrtes Wissen, das wenigen Experten bekannt ist, son-
dern auch auf zu Grunde liegendes soziales Wissen über Bischöfe, das im
9. Jahrhundert im Frankenreich entwickelt und verbreitet worden ist7. Als so-
ziales Wissen wird in Anlehnung an die Wissenssoziologie das in einer Gesell-
schaft verankerte Wissen über die Welt, über die rechte Ordnung verstanden, das
von sozialen Gruppen normativ anerkannt wird. Wissen existiert nicht ohne
Gesellschaft, die gesellschaftliche Wirklichkeit wird erst durch soziales Wissen
konstituiert. Das gelehrte Wissen wäre ohne eine Kategorisierung und Anpas-
sung in einen sozialen Kontext bedeutungslos, da es beliebig bliebe. Es würde
sich nicht aus der schier endlosen Masse an Kanones und Konzilsbeschlüssen
herausheben. Doch durch die Einpassung in das soziale Wissen über Bischöfe
und ihre gesellschaftlich/politisch relevanten Aufgaben in der Gesellschaft (d. h.
sie haben ein von Gott verliehenes Amt, mit dem eine bestimmte Verantwortung
verbunden ist, sie müssen am Jüngsten Tag Rechenschaft ablegen vor Gott für die
Ausübung ihres Amtes), wird es relevant in Machtfragen. Wer produziert dieses
Wissen und kann darüber so verfügen, dass es bei anderen auf Akzeptanz stößt?
In unserem Kontext heißt das: wem sind die Bischöfe auf Erden Rechenschaft
schuldig? Wie geht man mit einem sündigen Bischof um und wer ist hierfür
zuständig?
Dieses Wissen und der dadurch hergestellte Diskurs (Sünde, Beichte, Buße,
Rekonziliation) waren auch in Konflikten zwischen Königen und Bischöfen re-
levant. Diese Verbindung von Wissen und Macht wird besonders im Kontext der
Bischofsabsetzungen greifbar, und dies liegt an dem mehrdimensionalen Cha-
rakter des Bischofsamtes. Die Bischöfe hatten in dem politischen Gefüge des
9. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle inne. Sie waren ohne Zweifel politische
6 Vgl. auch Hohenaltheim 916, c. 5. Es scheint sich laut dem Editor Ernst-Dieter Hehl um einen
schon beinahe sprichwörtlichen Vorwurf gegenüber Bischöfen gehandelt zu haben (MGH Cone.
VI,2, S. 396 in Anm. 73).
7 Dazu grundlegend die Arbeit von Steffen Patzold zu Wissen über Bischöfe im Frankenreich
(Patzold, Episcopus), bes. S. 39-41; Landwehr, Das Sichtbare, S. 71.