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Kleinjung, Christine; Johannes Gutenberg-Universität Mainz [Mitarb.]
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 11): Bischofsabsetzungen und Bischofsbild: Texte - Praktiken - Deutungen in der politischen Kultur des westfränkisch-französischen Reichs 835-ca. 1030 — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2021

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.74403#0231
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VIII. Wissensaufbereitung und Deutungskämpfe: Arnulf von Reims

Sympathie ist eindeutig verteilt und er billigt die Absetzung Arnulfs955. Arnulf
bezeichnet er in seiner Historia als desertor956. Doch die Geschichte des Verrats
Arnulfs erzählt er sehr viel differenzierter als es uns Gerberts Aktenmaterial
schildert.
Es stellt sich daher die Frage, wie spezifisch „bischöflich" ein Verrat ei-
gentlich ist oder sein kann. Denkt man an die Reihe Bischöfe des 9. Jahrhunderts,
die in politischen Konflikten abgesetzt worden sind, wie Agobard von Lyon, Ebo
von Reims und dann wieder an Arnulf von Reims, dann spielt der Untreue -bzw.
Verratsvorwurf bei den Amtsenthebungsverfahren eine große Rolle. Bei Adal-
bero von Laon kam es nie zur Anklage, da der von ihm unterstützte König
letztlich siegreich war, er den „richtigen" Rebellen rückblickend verriet. Aber
Adalbero macht in der Historiographie eine Karriere als „Judas".
Adalbero beging einen Verrat, der nie zu einem Gerichtsverfahren führte.
Hingegen ist der Fall in der Historiographie sehr viel breiter behandelt, ausge-
schmückt und umgedeutet worden, als es bei dem — bald wieder rehabilitierten —
Arnulf der Fall ist, der jenseits der kirchlichen Rechtsquellen kaum Spuren
hinterlassen hat. Adalbero legt eine richtiggehende historiographische Karriere
hin, die in krassem Wiederspruch zu dem Desinteresse der politischen und
kirchlichen Öffentlichkeit in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Ereignis steht.
Adalberos Etablierung als Judas ist erfolgreich. Arnulf hingegen, der im Zu-
sammenhang mit seiner Absetzung von Gerbert mehrfach als Judas bezeichnet
wird957, wird in späteren Zeugnissen nicht mit diesem Attribut versehen. Nach
seiner Wiedereinsetzung muss er sich nicht mit diesen Vorwürfen auseinan-
dersetzen. Gerberts Konzept des Judas wird auf einer Ebene entwickelt, die nicht
leicht zugänglich ist. Meine These lautet daher: Es ist eine Frage des Erzählens.
Eine erfolgreiche, d.h. dauerhafte Kennzeichnung bzw. Stigmatisierung einer
Person als „Judas" kann nur durch Erzählungen herbeigeführt werden. Der Ju-
dasdiskurs hat seinen Ursprung in der bischöflichen Konzeption vom Kirchen-
gut als Kasse der Apostel, die Judas veruntreut hat958. Die Bedeutung von „Ju-
das" wurde aber nach und nach verengt, bis hin zum Prototyp des politischen
Verräters. Eine Etablierung einer Person als „Judas" kann nur in der Ge-
schichtsschreibung erfolgen. Denn nur in diesem Medium kann die eigentliche
Handlung des Verrats als „überhistorische" Geschichte, als Exemplum erzählt
werden.

955 Vgl. Richer Historiae IV, c. 51-72 zu S. Basie. Richer verteilt die verschiedenen Anklagepunkte
auf die Reden der anwesenden Bischöfe (eine Praxis, die sich auch bei Hinkmar von Reims
beobachten lässt). Vgl. etwa hier IV, c. 64 Bischof Wido zur vorgetäuschten Exkommunikation.
Die Argumente zur Absetzung decken sich zwar mit denjenigen Gerberts, wie etwa der
Hauptvorwurf, Arnulf habe mit seiner vorgetäuschten Exkommunikation Karls seine Binde-
und Lösegewalt missbraucht. Jedoch ändert Richer den Ton der Argumente, vereinfacht und
strafft die Argumentation. Die Übereinstimmung und die Nuancierungen kann man einem
Abgleich mit den von Gerbert redigierten Akten von S. Basle entnehmen. Richer lässt die um-
fangreiche kanonistische Beweisführung komplett weg.

956 An verschiedenen Stellen s. Richer, Historiae, S. 251, 252, 253, 254, 257.

957 S. oben.

958 S. dazu vor allem Hinkmars von Reims „Collectio de Raptoribus".
 
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