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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Muthesius, Hermann: Die Entwicklung des künstlerischen Gedankens im Hausbau: Vortrag, gehalten auf dem Kongreß der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in Hagen 1905
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0038

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DIE ENTWICKLUNG DES KÜNSTLERISCHEN GEDANKENS IM HAUSBAU.

Mit Port Sunlight und Bournville war die
Richtung des Arbeiterwohnhausbaues in künst-
lerischer Beziehung völlig bestimmt. Die Städte,
allen voran London, begannen jetzt auch ihrer-
seits Wert auf die gefällige Gestaltung ihrer
Arbeiterhäuser zu legen. Nicht nur in den
Einzelhäusern, die neuerdings allgemein in das
Programm der städtischen Arbeiterwohnungs-
politik aufgenommen werden, folgte man dem
Beispiel, gefällig und anheimelnd zu bauen,
sondern die dort gegebenen Fingerzeige wirkten
auch zurück auf die Arbeitermietkasernen. Was
diese betrifft, so hat die Stadt London in den
Vierteln Boundary Street und Millbank Estate
Musterbeispiele einfach-würdiger und gefälliger
Gestaltung gegeben.

Die Frage der schönen Gestaltung der Arbeiter-
häuser ist in England gelöst, der Bau schöner
Arbeiterhäuser im besten Fluß. Schon nähert
sich dort ein Projekt der Verwirklichung, das
beim ersten Bekanntwerden kaum mehr als ein
leeres Phantasiegebilde zu sein schien: die
Gartenstadt. Die Gartenstadt wird in England
mit schönen Häusern besetzt werden, das steht
fest, nachdem dort vor dreißig Jahren ein Bed-
ford Park und vor zehn Jahren ein Port Sunlight
entstehen konnten. Das künstlerische Allgemein-
Niveau des Hausbaues ist so hoch entwickelt,
daß die Programmforderung der Schönheit bei
allen diesen Fragen eine durchaus natürliche
geworden ist.

Der Unterschied, der in der Gestaltung des
Arbeiterwohnhauses zwischen Deutschland und
England stattfindet, ist gekennzeichnet durch
den Unterschied, der im heutigen Niveau der
bürgerlichen Baukunst in beiden Ländern an-
zutreffen ist. Das was in England Allgemeingut
geworden ist, liegt in Deutschland vorläufig noch
allein in der Hand einzelner Künstler. Aber
die Zeit ist reif für eine große Allgemein-
bewegung zur Gesundung unserer bürgerlichen
Baukunst. Es ist für den Kenner der englischen
Verhältnisse interessant, zu verfolgen (und darin
beruht das Belehrende ihrer Betrachtung), wie
sich bei uns fast genau dieselbe Folge der
Entwicklungsvorgänge wiederholt, die vor zwan-
zig oder dreißig Jahren in England stattfand.
Das wichtigste Ereignis in dem Gesundungs-
prozeß, gewissermaßen dessen Krise zum Bessern,
ist das schon erwähnte Neuerkennen der Schön-
heit der ländlichen Architektur. Seit einigen
Jahren sind wir so weit, die Bauernhütten, die
mit simpelm Sinn, ohne von der sogenannten
Kunst berührt zu sein, auf den Boden gesetzt
sind, mit Bewunderung zu betrachten. Wir
sind darangegangen, sie zu studieren, sie auf-
zunehmen. Und hier und da zieht man bereits
die Konsequenzen und gestaltet neue Aufgaben
in ähnlicher schlichter Weise. Tut man aber
das, so müssen die zappeligen, mit tausend
Motivchen überhäuften Gebilde, die unsere
Architekten in die Welt setzen, bald der all-

gemeinen Verachtung anheimfallen. Von der
Gesinnung, die sich aus der Liebe zum Bauern-
haus auf die Allgemeinheit verpflanzen wird, ist,
wie das in England mit so glänzendem Erfolg
geschehen ist, eine Hebung der Qualität unserer
bürgerlichen Baukunst mit Sicherheit zu er-
warten.

Aber die heutigen Schäden werden nicht
beseitigt werden, wenn unsere Architektenschulen
ihr Werk in derselben Weise fortsetzen, wie es
bisher geschieht. Was dort gelehrt wird, ist
nicht Baukunst. Baukunst ist Kunst, und Kunst
ist eine Äußerung der Empfindung. Will man
also Baukünstler erziehen, so richte man sich
an die künstlerische Empfindung, man stärke
sie, man pflege sie, man entwickle sie. Der
heutige architektonische Unterricht ist ein Bei-
spiel dafür, wie bei Organisationen die geistigen
Werte völlig aus dem Auge verloren werden
können, wie aus toten Programmpunkten ein
System aufgebaut wird. Was unsere Architekten-
erziehung heute tut, ist die Übermittlung der
Äußerlichkeiten vergangener Kunstausübungen.
Man hält das für Architektur. Für die Bildung
des Geschmacks wird so gut wie nichts getan.
Dem Schüler wird ein äußerlicher Apparat von
Formen in die Hand gegeben, mit dem er dann
im Leben operiert. Natürlich ist er um so
stolzer, je mehr er von seinem Apparat ent-
falten kann. Die Früchte sehen wir in unserer
heutigen Baukunst. —

Die Pflege und Entwicklung eines echteren
tektonischen Empfindens findet vorläufig noch
an einer andern, man möchte sagen, an einer
Nebenstelle statt, nämlich beim neuen Kunst-
gewerbe. Hier ist in den letzten 5 Jahren eine
ganz klare Situation geschaffen worden; der
alte Kulissen- und Requisitenkram ist ausgeräumt
und man befleißigt sich, den Sachen auf den
Grund zu gehen, mit Vertiefung und Eifer in das
innerste Problem der menschlichen Tektonik ein-
zudringen. Konstruktion und Empfindung, diesen
beiden Grundprinzipien menschlich-tektonischen
Schaffens, wird mit Absehung von allem äußer-
lichen Formenkram und allen Stilmätzchen zu
folgen versucht, und ein heiliger Ernst, der auf
der ganzen Linie herrscht, läßt hier noch reiche
Früchte erhoffen, die sich in den Leistungen
des heutigen besten Kunstgewerbes schon an-
kündigen. Es kann nicht ausbleiben, daß sich
auf die Dauer auch das größere Schwestergebiet,
die Architektur, mausern muß, daß auch hier
das Äußerlichkeitsgetriebe verlassen werden wird.
Aus einer schließlichen Verschmelzung des Kunst-
gewerbes mit der Architektur wird eine merk-
liche Steigerung des Qualitätsniveaus in der
bürgerlichen Baukunst zu erwarten sein. Auch
hier bietet die englische Entwicklung wieder
eine Parallele: die Verschmelzung der kunst-
gewerblichen mit der architektonischen Strömung
fand dort in den achtziger Jahren statt, die
Generation der heutigen hausbauenden Archi-

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