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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 8
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Hamann, Richard: Architektur als Raumkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0080

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ARCHITEKTUR ALS RAUMKUNST.

hindurch, die hinter uns nicht wieder zusammen-
fiele — so wie ein Wurm das Holz durch-
bohrt —, so würde das Raumgebilde, das wir
aus dieser Füllung herausschneiden, eine ganz
charakteristische Gestalt haben. Die Tiefen-
dimension würde die Höhe, und diese die Breite
übertreffen; der Grundriß ein sehr langgezogenes,
streifenförmiges Rechteck bilden, der Aufriß
ein Rechteck von den Proportionen der mensch-
lichen Gestalt in Höhe und Breite. Wo uns
nun durch Kunst und Technik ein Raum in
dieser Weise begrenzt entgegentritt, da erinnert
er uns sofort wieder an jenes Hindurchschreiten
in der Längsrichtung. Diese Erinnerung an
Bewegungen wirkt suggestiv innervierend, ist
zugleich eine Aufforderung zum Gehen. Daher
rührt das Peinliche eines Wohnraumes, dessen
Länge die Breite bedeutend übertrifft. Er nötigt
uns beständig, in dieser Längsrichtung zu
wandeln, und legt uns den Aus- und Eintritt
näher als das Verweilen.

Es ist nun nicht gleichgültig, welcher Art
die Begrenzung, die Dekoration der begrenzenden
Mauern zur Seite solches langgestreckten Rau-
mes sind. Unsere Aufrechthaltung, die Sicher-
heit in der Regulierung unseres Gleichgewichts
hängt hauptsächlich ab von den Vertikalen, die
wir um uns sehen, in geringerer Weise von
den Horizontalen. Nach der Art, wie das Auge
diese aus gezeichneten Linien auffaßt, gehen
Impulse, Innervationen durch Vermittlung des
Auges aus, die den Körper ausrichten, vor dem
Schwanken und Fallen schützen. Schließen
wir die Augen, so wird der Gang sofort halt-
loser, schwankender. Diese Vertikalen können
wir deshalb den Stützen und Stäben vergleichen,
an denen ein Kind, das gehen lernt, oder ein
gliederschwacher Mensch sich aufrecht hält.
Ist dafür gesorgt, daß die Wände des Raumes,
durch den wir gehen, durchzogen sind von
diesen Vertikalen, so ist dem Menschen von
vornherein Haltung gegeben, er kann aufrecht
hindurchschreiten, ohne daß er selbst durch
innere Impulse sich beständig zusammennehmen
muß. Die Stützen des Auges besorgen es für
ihn. Aber jene Vertikalen, Horizontalen und
Schräglinien vermögen noch in anderer Weise
als als bloße Orientierungen uns zu beeinflussen.
Wo diese Gebilde körperhaft, plastisch auftreten,
bedeutet das Aufrechte und Schlanke zugleich
ein Stehen, das Horizontale ein Liegen — An-
spannung und Abspannung —, das Schräge den
Moment des Überganges, die Fallsucht. Die
Ähnlichkeit mit dem Bilde unseres eigenen
Körpers und seinen Beziehungen zum Boden
läßt uns auch bei fühllosen Gebilden, einem
Baumstamme, einem liegenden Balken, einer
Steinsäule an das Gefühl des Stehens, der
Haltung, des Liegens, der Gemächlichkeit
denken. Bei solchen plastischen Vorbildern
gilt aber noch mehr als bei der Raumform,

daß die Erinnerung zugleich ein Impuls zur
Nachahmung ist. Ein Kind würde vielleicht
nie die Bewegungen gelernt haben, wenn nicht
das Sehen der umgebenden Gestalten und ihrer
Tätigkeit zugleich das eigene Tun auslöste.

Nun glauben wir die Schönheit eines Säulen-
ganges zu verstehen. Abgrenzung des Raumes
nach den Seiten und der Höhe, und nur die
Tiefe offen gelassen, damit dem Schreiten des
Menschen die Richtung angewiesen, der Impuls
zur Bewegung von der Gestaltung selbst aus-
gelöst. Zu beiden Seiten die stützenden Verti-
kalen, die dem Gehen Sicherheit gewähren, und
dazu eine Reihe von plastischen, streng aufrecht
stehenden Gebilden, die auch den schreitenden
Menschen aufrichten, ihm Haltung geben wie
spalierbildende Soldaten in straffer Haltung. Ein
solcher Säulengang ist wie ein formgewor-
denes Tun des Menschen, das Schreiten und
Raumdurchmessen kristallisiert. Die Sprache
hat nur ein Wort, für den Gang — die archi-
tektonische Form, und für den Gang — die
Aktion, die sich darin vollzieht. Wie in aller
Form, so auch hier ein Mittel zwischen Freiheit
und Gebundenheit. Es ist ein Zwang, die Be-
wegungsfreiheit ist eingeschränkt, die Haltung
vorgeschrieben, aber durch dieses Vorbildliche
der Form bekommt das Gehen eine Leichtigkeit,
das Einengende und Zwingende ist zugleich
eine unterstützende Begleitung. Wie die Sitte,
die Moral den Menschen bindet, aber zugleich
doch für ihn will, ihm die Anstrengung der
eigenen Wahl entnimmt, so auch hier der Gang
und seine Grenzen.

Noch ein letztes Moment ist von Wichtig-
keit. Wenn wir uns bewegen, so haben wir
ein Maß für die Geschwindigkeit unserer Be-
wegung an der inneren Anstrengung, mit der
wir sie vollziehen, aber auch an der Geschwin-
digkeit, mit der die uns umgebenden Gegen-
stände an uns vorbeiziehen. Diese Geschwindig-
keit steigert sich, je näher uns die Gegenstände
sind. Wenn wir auf einer Eisenbahnfahrt die
Bäume des ferneren Waldes ansehen, so gehen
diese nur langsam an uns vorbei, während
plötzlich die nahe Telegraphenstange vorbei-
saust. Ein Säulengang sorgt dafür, daß rechts
und links von uns in großer Nähe beständig
solche Objekte vorbeihuschen. Mit jedem neuen
Säulenpaar ist eine Station erreicht, eine Strecke
zurückgelegt; das Gefühl, vorwärtsgekommen
zu sein, hebt die Stimmung. So ist es möglich,
durch engeres oder weiteres Aneinanderrücken
der Säulen der Bewegung bei gleicher innerer
Anstrengung eine gewisse Geschwindigkeit, ein
günstiges Maß des Vorwärtskommens aufzu-
prägen und durch den „ästhetischen“ Anblick
das Gefühl der Beschleunigung zu erhöhen.
Das ist um so wichtiger bei Bewegungen, bei
denen es sich nicht um ein Ziel handelt, sondern
um die bloße Peripatetik, das Spazieren, die

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