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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 8
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Hamann, Richard: Architektur als Raumkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0082

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ARCHITEKTUR ALS RAUMKUNST.

ringsum geschlossener Platz ist ein Raum, der
auch nach oben hin verhältnismäßig geschlossen
ist, wie ein Innenraum gedeckt ist, wenn die
Häuserabschlüsse als eine Linie herumlaufen.
(Markusplatz in Venedig.) Deshalb erscheinen
auch gewölbte Zimmer niedriger als flach ge-
deckte mit gleicher Scheitelhöhe.

Die Besonderheit eines gewölbten Ganges
oder Zimmers besteht darin, daß die Wölbung
einen Raum über dem Raum schafft und damit
Rücksicht nimmt auf die besondere, vom übrigen
Körper relativ unabhängige Beweglichkeit des
Kopfes, der auch seine eigene Bewegungs- und
Verweilsphäre verlangt, die sich nicht so weit
nach den Seiten zu erstrecken braucht, als die
Schultern es verlangen. Das Gefühl, in diesen
Raum hineinzupassen wie in eine vorgebildete
Form, ist bei jedem gewölbten Raum stärker
als bei dem geradegedeckten, aber deshalb
auch das Festhalten, die Strenge, mit der der
Raum den Menschen ausrichtet. Ein gewölbter
Gang verlangt noch mehr als ein geradegedeckter,
daß man in der Längsrichtung der Scheitel-
linie geht und nicht nach den Seiten abschweift,
und der Kuppelraum hat eigentlich nur einen
Punkt, an dem es sich verweilen läßt, die Mitte.
Daher das Beruhigende, Bewegungverhindernde,
das die Wölbung mit sich bringt. Die Kunst
des schönen ruhigen Seins, das Cinquecento,
verlangte immer wieder nach Rund- und Kuppel-
räumen.

Über alle diese Bestimmungen des Raumes
entscheiden aber nicht die absoluten Größen,
sondern die relativen, die Verhältnisse von
Höhe zu Breite und Länge. Es genügt, daß
die Proportionen jenes Angepaßtsein an den
ruhenden oder sich bewegenden Menschen
dem Auge darbieten, um die Aufforderung zur
Bewegung oder Ruhe mit sich zu bringen, auch
wenn die absolute Raumgröße genug Spielraum,
Bewegungsfreiheit läßt.

Von dieser Bewegungsaufforderung unter-
scheiden wir deshalb die indifferente Bewegungs-
möglichkeit. Es zeigt sich, daß nirgend so
sehr wie in der Raumkunst die absolute Größe
eine Rolle spielt. Es gibt Stimmungen, in
denen uns ein Raum zu weit oder zu eng sein
kann. Oft fühlen wir einen gewissen Drang
zur Bewegung, ohne daß wir ihm nachgeben,
weil eine innere Lebendigkeit, eine psychische
Emotion eine richtungslose ziellose Unruhe er-
zeugt, die sich durch zu nahe Wände behindert,
eingeengt, bedrückt fühlen würde. Im andern
Falle scheinen die äußeren Organe zu erstarren,
eine Abneigung gegen Bewegung stellt sich ein
und widerstrebt der Weiträumigkeit, der Ex-
pansionsmöglichkeit. Bei konzentrierter geistiger
Arbeit ist uns diese äußere Regungslosigkeit
am bekanntesten. Von hier aus gewinnen wir
Gesichtspunkte für die Geräumigkeit des Studier-
zimmers und des Festsaales. Die Zelle, die

Klause scheint uns für vergeistigtes Innenleben
der rechte Ort. Der Holzschnitt-Hieronymus
von Dürer, der Faust von Rembrandt zeigen
diese Enge des Gehäuses, die zur Sammlung
stimmt. Dagegen für Zerstreuung und Fröhlich-
keit, die Beweglichkeit und Drang nach außen
ist, die Weite des Saales, die Möglichkeit,
diesem inneren Bewegungsdrange nachzugeben.
Feste im Freien! Die fröhliche, bewegliche
Welt des Rokoko schuf sich diese Bewegungs-
möglichkeiten ohne Bewegungsaufforderung, in-
dem sie die Räume ringsum durch Spiegel ver-
doppelte, und Tiepolo öffnete die Wände des
engen Festsaales im Palazzo Labbia, indem er
durch täuschende perspektivische Malerei den
Einblick in neue und abermals neue Räume
eröffnete.

Was so für verschiedene Situationen gilt,
läßt sich in gleicher Weise von verschiedenen
Charakteren sagen. An der Weite des Raumes,
den ein Mensch braucht, um sich darin wohl
zu fühlen, oder den er ertragen kann, ohne
sich darin zu verlieren, haben wir ein Maß für
die Energie seines Lebens- und Bewegungs-
dranges, für die Kraft, nach außen zu wirken.
Es gibt pathologische Zustände, die sogenannte
Platzangst, ein Schwindel, der gewisse nervös
schwächliche Personen ergreift, wenn sie über
einen freien Platz gehen, sich von den Wänden,
an denen sie bisher entlang streiften, entfernen
sollen. Das ist das Extrem. Aber auch sonst
kann man bemerken, daß schwächliche oder
träumerische, innerliche Menschen sich an den
Häusern entlang drücken, um die Stützen, an
denen sie sich — wenn auch nur ideell —
halten, möglichst nahe zu haben. Je offener,
größer der Raum sein kann, je entfernter die
stützenden Pfeiler oder Wände, um so stärkerer
Vitalität bedarf es, nicht schwindlig zu werden,
sich sicher, frei, nur vom inneren Willen diri-
giert, darinnen zu halten und zu bewegen. Man
demütigt die Menschen, indem man sie in
Zellen unterbringt, wie die Humilität, die
Demut mönchischer Gesinnung nur in solchen
Zellen gedeihen kann. Es erscheinen uns die
Menschen, die in den großen überhohen
Räumen alter Ritterburgen oder in den Palästen
der italienischen Renaissance haben leben
können, von einer fast übermenschlichen Kraft,
terribilitä.

Denn glaubten wir, je mehr wir von den
freien Künsten zur dekorativen Kunst und
Architektur hinabstiegen, um so mehr an die
unbemerkbaren, unbewußteren Regungen, die
dauernde Stimmung heranzukommen, so gilt
das am allermeisten — mehr als von der
Raumausschmückung — von der Raumgestal-
tung, und das ist der Grund, von ihr auszu-
gehen, wenn wir die Wallung des Blutes, den
Pulsschlag von Menschen und Zeiten kunst-
historisch messen wollen.

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