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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 9
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Valentiner, Wilhelm Reinhold: Eugène Fromentins "die alten Meister"
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Nr. 10
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Schmitthenner, Adolf: Die Entdeckung des Heidelberger Schlosses vor hundert Jahren
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0183

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DIE ENTDECKUNG des heidelberger schlosses.

„So wollen wir mit dir gehen!“

„Wozu? Setzet euch dort auf die Mauer, die
Sonne hat die Steine ganz trocken gebrannt.
Hier wartet auf mich. Ich bin bald wieder
bei euch! Aber verlasset nicht den Platz!“

Und er eilte rasch den Weg zurück, den
sie heraufgekommen waren.

Die Mutter hatte sich auf das steinerne
Mäuerchen gesetzt, oberhalb der Torbrücke,
und sah dem Gatten nach, damit ein etwaiger
letzter Gruß nicht verloren gehe. Als sie diesen
empfangen und mit der rechten Hand wieder-
gegeben hatte, schaute sie sich nach ihrem
Söhnlein um.

Aber wo war das hingeraten? Sie wandte
sich riickwärts und schaute iiber ihre rechte
Achsel und den Schloßgraben durch den Tor-
bogen in eine griine Wildnis hinein.

„Lothar! Lothar!“ rief sie.

„Hier bin ich, Mutter!“ antwortete die helle
Stimme in nächster Nähe, und alsbald kam der
Knabe aus dem Gebüsch heraus und sprang
durch das Tor auf die Mutter zu.

Sein Gesichtchen glühte vor Erregung.

„O Mutter, Mutter, komm! O, was ich ge-
sehen habe! Himmelhohe Bäume und dickes
Gestrüpp und Gebüsch, und Himbeeren, viele,
viele! Und mitten drin ein wunderschönes Tor,
ohne Haus und ohne Mauer; aber man kann
nicht durch, es ist ganz zugewachsen. O komm,
Mutter, komm.“

„Wir wollen auf den Vater warten und dann
alles zusammen ansehen. Bleibe hier!“

„Nein, wir wollens zuerst ansehen und es
dann dem Vater zeigen.“

„Aber mir gefällt alles am besten, wenn ichs
zugleich mit deinem Vater zum erstenmal sehe.“
„Und mir gefällt alles am besten, wenn ich
es ganz allein zum erstenmal sehe. Adieu,
Mutter!“

„Verirre dich nicht!“

„Ich bin sogleich wieder da.“

Und richtig, ehe noch die Mutter den ersten
sorgenden Gedanken hegte, kam er schon aus
der Wildnis hervorgesprungen.

„Mutter, Mutter!“ rief er und schwang sein
blaues Mützchen. „Nun bin ich doch durch das
Tor gekommen. Weißt du, was dahinter ist?
Ein wilder Garten mit hohen Bäumen, und auf
dem Boden bis hoch hinauf ein Gewirr von
Dornen und Hecken und hinter einem breiten
Graben ein hoher Turm und zerfallene Paläste.
O du glaubst nicht, wie schön das alles ist.
Aber du mußt kommen, es ist erschrecklich
viel zu sehen!“

Die schöne Frau strich dem Knaben die
wirren Haare aus der Stirn und sagte lächelnd:

„Der Vater wird bald wieder da sein. Er
wird uns alles erklären, dann verstehen wirs
viel besser. Er wird zeichnen und wir werden
ihm zuschauen.“

„Laß mich noch einmal hinein! Ich komme
gleich wieder.“

„Aber du mußt mir immer antworten.“

„Ja Mutter. Adieu!“

„Lothar!“

„Mutter!“

„Lothar!“

„Mutterchen, o!“

„Lothar!

Lothar!“

Es kam keine Antwort, die junge Frau stand
auf und ging langsam auf den Torbogen zu und
durch das Tor hindurch in den Bezirk hinein.
„Lothar!“

Da rauschte es im Gebüsch, und der Knabe
kam heraus. Er ging auf den Zehen und war
blaß geworden und zitterte in tiefster Bewegung.
„O Mutter, was ich gesehen habe!“

Er schlang seine Ärmchen um die Frau.
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und
drückte ihn an sich.

„Komm heraus,“ flüsterte sie. Sie schaute
schüchtern auf in die stille unendliche Wildnis
hinein. Ein leiser Schauder kam über sie. Sie
führte ihr Kind zum Tor hinaus, an dem
steinernen Schildwachhäuschen vorbei, setzte
sich auf die Mauer und zog ihren Jungen auf
den Schoß.

„Was hast du gesehen?“

„O Mutter, ich kann es nicht sagen.“

„Schau hinaus, - wie freundlich und heimelig
ist es hier! Siehst du dort die Tauben auf dem
Dach? Die sind fast so groß wie die deinen
daheim.“

„O Mutter, weißt du, wie es war? Gerade so
wie du mir erzählt hast.“

„Ich weiß nicht, was du meinst, Kind.“

„So wie du mir erzählt hast, so war es.“
„Aber ich habe dir doch nie von Heidelberg
erzählt. Ich war ja noch niemals hier.“

„Ach, so meine ich nicht. Ich meine, wenn
wir in der großen Stube sitzen nach dem Weiher
hinaus, ehe die Marianne das Licht bringt, wenn
wir zwei beide auf dem Sofa sitzen und der
Mond scheint zum Fenster herein, und du er-
zählst mir: gerade so ist es gewesen.“

„Ach, so meinst du!“

Die Mutter zog ihr Kind näher an die Brust
und sagte: „Jetzt mußt du mir erzählen; wie
war es?“

„Also! Ich bin geradeaus gegangen durch Ge-
büsch und Dornen; da sah ich über mir ein
Häuschen mitten in den Baumwipfeln, und
darunter ein Tor. Ich ging drauf zu und kam
über eine Brücke und durch das Tor und wieder
über eine Brücke, eine breite und lange, dann
kam ein hoher dicker Turm, durch den ging ich
mitten hindurch wie durch eine gewaltig große
Höhle, und dann — der Knabe schöpfte tief
Atem — dann kam ich in einen weiten Hof, der
war ganz wild überwachsen. Hohe Bäume sind


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