Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

DOI Heft:
Nr. 9
DOI Artikel:
Valentiner, Wilhelm Reinhold: Eugène Fromentins "die alten Meister"
DOI Heft:
Nr. 10
DOI Artikel:
Schmitthenner, Adolf: Die Entdeckung des Heidelberger Schlosses vor hundert Jahren
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0184

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DIE ENTDECKUNG DES HEIDELBERGER SCHLOSSES.

drinnen und Holundergebüsch und überall und
überall Efeu und Efeu. Aber was noch?
Mutter, du glaubst es gar nicht! Von allen Seiten
hohe Paläste. Die einen sind verfallen, aber
die andern stehen noch, stolz und prächtig.
Der blaue Himmel scheint durch die Fenster,
und steinerne Männer und Frauen schauen aus
dem Efeu. Kein lebendiger Mensch! Aber
viele Schmetterlinge fliegen über den grünen
Boden, und die Vögel singen in den Bäumen.“

„Da bist du in den Schloßhof geraten. Was
sich der Vater freuen wird, wenn wir all dies
anschauen. Aber nun bleibst du hier!“

„O nur noch ein einziges Mal! Ich habe noch
lange nicht alles gesehen. Das Schloß ist noch
viel, viel größer. Ganz hinten steht noch ein
gewaltiger Turm. Dort muß es herrlich sein!“

„Aber es ist alles so wild und einsam. Du
könntest dich verlaufen im Dickicht oder in ein
Loch stürzen.“

„Ich? O nein, Mutter. Ich bin vorsichtig und
schaue wohl, wohin ich trete. Und klettern kann
ich in die Tiefe und in die Höhe. Verirren werde
ich mich sicherlich nicht. Ich weiß, ich muß
so gehen, wie jetzt die Sonne scheint, dann
komm ich wieder zu dir.“

Die Frau widerstrebte noch, aber sie war
schon im Nachgeben. Lothar bestürmte sie mit
Liebkosungen und hatte es bald gewonnen.

„Aber du kommst wieder, sobald ich dich
rufe.“

„Jaaa — oder, Mutter, wir wollen es diesmal
so halten: ich gehe fünfhundert Schritte weit,
dann kehre ich wieder zurück. Bis du auf
tausend gezählt hast, bin ich wieder bei dir.“

„Du mutest mir eine lustige Beschäftigung
zu,“ sagte die Mutter lächelnd. „Nun denn in
Gottes Namen, so lauf!“

Sie stand und sah ihrem Knaben mit stolzem
Blick nach. Dann spazierte sie langsam vor der
Brücke auf und nieder, schaute bald in die Ebene
hinaus, bald die Gasse hinunter, bald durch das
Schloßtor in die grüne Märchenwelt hinein.
Darauf sah sie einer grauen Katze zu, die am
Ende des Mäuerchens auf der warmen Stein-
platte lag und aufmerksam hinunter in die
Brennesseln blinzte.

Da fiel ihr auf einmal ein, daß ihr Gatte
schon lange hätte zurück sein müssen. Er wird
etwas gefunden haben, was er zeichnen muß.
Aber Lothar! — —

Sie trat unter das Tor und schaute in die
Wildnis. Das sind die Falter, von denen er
gesprochen hat, und das sind seine Vögel; aber
wo ist er selbst?

Ich soll auf tausend zählen; warum hab ichs
denn nicht getan?

Und nun fing sie an, das Versäumte nach-
zuholen.

Ehe ich bei hundert bin, ist er da, sagte sie
sich, als sie über die dreißig war. Und sie

zählte getrost weiter, aber das Herz schlug ihr
immer höher hinauf.

Sie ging zählend bis zu ihrem Sitz zurück,
ließ sich nieder, schloß die Augen und zählte
und zählte, bis hundert; — und nun war sie
bei zweihundert, bei dreihundert •— und er war
noch nicht da. Weiter, weiter. Ehe ich bei
fünfhundert bin, hab ich ihn wieder. Fünf-
hundert — und sechshundert und weiter hundert
- und hundert. Als sie neunhundertneunund-
neunzig gezählt hatte, hielt sie eine Weile inne.
Dann sagte sie laut vor sich hin: tausend. Und
nun war es, als ob alle Geister der Furcht wie
auf ein Losungswort auf sie einstürzten.

Sie sprang auf, eilte durch das Tor in das
Dickicht hinein und rief: „Lothar!“

Eine Amsel flog erschreckt aus dem Gebüsch
und flatterte mit schwerem Flügelschlag in die
Wildnis hinein. Es raschelte auf dem Boden.
Aber keine Antwort.

„Lothar! — Lothar!“ rief sie in kurzen Unter-
brechungen. Und mit jedem vergeblichen Ruf
wuchs ihre Angst.

Da hörte sie hinter sich die Tritte ihres
Gatten.

Er kommt, und ich habe das Kind verloren,
sagte sie zu sich. Ich muß ihm das Kind
bringen, wenn er mir entgegenkommt.

„Lothar! Lothar!“ und sie lief, ohne des Rufes
ihres Gatten zu achten, mitten durch das Ge-
strüpp zwischen den Ruinen hin, die rechts und
links durch die Bäume und über die Büsche
auf sie niederblickten.

Hier geht es in den Schloßhof, sagte sie zu
sich. Hier ist er nicht hinein. Er wollte zu
dem hohen Turm, von dem er erzählte.

Und sie arbeitete sich weiter durch Brom-
beerhecken und Efeugewirr und eine grüne Welt
aller Gesträuche und alles Laubwerks auf das
rotschimmernde Gemäuer zu.

Ihr Gatte ging ihr langsam nach. Er ahnte
nichts von ihrer Angst. Sie geht dem Kleinen
nach, der ihr den Weg zeigt, dachte er, und
ging schauend und staunend in die Märchen-
pracht hinein.

Da hörte er vor sich einen leisen Schrei.
Es war die Stimme seines Weibes. Er schaute
hin und sah die helle Gestalt vor seinen Augen
verschwinden.

War es Traum oder Wirklichkeit? Er schloß
die Augen und öffnete sie wieder. Die Käfer
summten und eine Waldtaube gurrte; grün-
goldener Sonnenschein flutete über die stillen
Zweige hin.

Er legte sich die Hand vor die Stirne. War
sie es, oder war sie es nicht? Sie war es ge-
wesen, ihre Gestalt, ihr Kleid, ihr braungelocktes
Haar. Aber sie war so wundersam vor ihm
hergeschwebt, ohne seiner zu achten, und doch
so lockend und ziehend, wie wenn sie hier ihre
Heimat hätte in diesen Trümmern; und sie war

386
 
Annotationen