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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr.12
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Trübe Frage
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Erzählungs-Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0287

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Trübe frage.

Sag einmal, was liebst du?

Oder liebst du gar nichts mehr?

Weißt du noch, wie du als kleiner Junge
abends im Bett allein, wenn Mutter mit dir
gebetet hatte und weggegangen war, auf eigene
Faust weiterbetetest und alles was dir lieb war
endlos aufzähltest? Wie du zuletzt, der ganze
Schatz erschöpft, Menschen und Dinge, wieder
bei deiner Mutter anlangtest und im bloßen
Gedanken, daß sie dir einst genommen werden
könnte, zu weinen begannest? Wie deine ge-
falteten Finger sich zusammenpreßten, und dein
ganzer Körper, Arme und Beine, in Bewegung
gerieten und mit Gott um ihr Leben rangen,
die gar nicht einmal krank war, bis du er-
schöpft auf dem durchnäßten Kopfkissen ein-
schliefst?

Weißt du, wie du deine Schwester geliebt
hast, die kleinste? Wie sie dir nachts in deinen
Alpträumen zu schaffen machte, wo du sie von
Wagen überfahren, von Soldaten weggeschleppt,

von Drachen ergriffen und verschluckt
sahst, und wie du, mit ersticktem
Schrei im Dunkeln aufgewacht, voll
Angst in die geheimnisvolle Musik
der Atemzüge horchtest, ob du auch
ihr leises kurzes Schnarchen zwischen
dem Gestöhn der Geschwister und
Eltern vernehmen könntest; und wie
du aufstandest, vorsichtig und lang-
sam, um an keinen Bettpfosten oder
Stiefelknecht zu stoßen, dich zu dem
Trallenbettchen hintastetest, sie lut-
schen hörtest, und entzückt die Wärme
des kleinen Körpers gegen dein Ge-
sicht heraufströmen fühltest!

Und denkst du noch daran, wie
im Heranwachsen der alte Kanzler
Held deiner Knabenbegeisterung wurde,
wie du ihn im offenen Wagen vorbei-
fahren sahst und nicht wagtest aus
der Menge herauszutreten, um ihm die
Hände zu küssen, und wie du in
deinem Herzen zu Gott betetest um
einen Revolverknecht, der die Waffe
gegen den Vergötterten erheben sollte,
damit du vorspringen und ihn retten
dürftest mit deinem Leben und Blut?
Sag, was liebst du jetzt?

Liebst du auch nur deine Arbeit
so wie du einst in den Schularbeiten
die kleinen Allotria triebst, wenn du
beim Landkartenzeichnen den schmalen
Pinsel mit blauer Farbe an der Küste
Italiens herunterführtest und, ehe es
trocknete, mit dem Wasserpinsel die
flauere breite Kante nachzogst? Und
wie all deine andern fLiebhabereien
und Basteleien, dein Laubsägen, deine
Sammlungen, deine Tiere?

Sprich, liebst du jetzt gar nichts mehr? — -
Was soll ich lieben! Von Mutter und Ge-
schwistern bin ich fern, was sie leben, lebe ich
nicht, und sie wissen nichts von meinen Stunden.
Weib und Kind habe ich nicht, und ein Held,
sagt selbst ob es noch einen gibt! Was soll ich
lieben! Die Arbeit ist mir fremd und verhaßt,
denn sie ist nicht meine Arbeit sondern etwas
Totes, das jeder andere'genau so machen würde;
ich sehe nicht, zu was sie frommt, ich erkenne
nicht was das Streben der Menschen will, der
unübersehbaren Millionen in dieser Riesenstadt.
Was soll ich denn lieben?

Vielleicht, meine Heimat, wenn du mir
wiederkehrtest: wenn ich den Boden täglich
sähe, der mich nährt, und die Stadt verstände,
die kleine, deren Teile sich sichtbar verketten
und ein Zusammenleben erraten lassen, kein
Durcheinander — vielleicht! Vielleicht daß eine
Herde weidender Kühe draußen, oder der Laden
des Hökers in der engen Straße, die ich bar-
haupt durchlief mit dem Korb am Arm, oder

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