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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Erstes Heft
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Walden, Herwarth: Theater
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0011

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I






DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Theater
DerGrössenwahn der Leute, die sich Künstler
nennen, ist eine Tatsache und nicht etwa
eine irrige Meinung des Publikums. Dieser
Grössenwahn entsteht aus der Vorstellung
der Persönlichkeit. Diese Vorstellung bil-
det sich am stärksten der Darsteller ein,
der nicht mehr Schauspieler heissen will.
Der Darsteller ist ein feingebildeter Mensch,
der sich sehr ernst nimmt und an der Kunst
ein persönliches Gefallen findet. Er denkt
die Gedanken der Literatur nach und gibt
sie pädagogisch bedeutsam von sich. Er
vertritt persönlich den Literaten, der sich
persönlich an Begriffen abgedacht hat. Alles
wird vergeistigt, sogar die Sexualität. Die
Persönlichkeiten und die Kritiker, die sich
schlicht öffentliche Meinung nennen, werden
von jedem Schlagwort an den Kopf getroffen,
und das Publikum langweilt sich bis zum
Abendessen. Der Kampf an der Garderobe
ist die natürliche sinnliche Reaktion auf die
fehlende vorgetäuschte Aktion. Das Pu-
blikum hat nämlich den Instinkt, der dem
Einzelnen sorgsam verbildet ist. Das Pu-
blikum als Gesamtheit hat sogar den künst-
lerischen Instinkt, der auch in dem Einzel-
nen verbildet ist. Die Persönlichkeiten be-
haupten, dass das Publikum die ernste Kunst
nicht mag. Und trotzdem arbeiten die Leute,
die sich auf das Publikum einstellen, die
Verfasser von Operetten und Kabarettliedern,
mit dem berühmten Ernst der grossen
Kunst. Und das Publikum nimmt diesen
Ernst ernst. Es lässt sich hier in jeder
Hinsicht erregen. Es gibt nun keine Erregung
ohne Grund. Und das Publikum, das sich hier
erregt, besteht aus den selben Persönlich-
keiten, die sich für die grosse Kunst tot-
langweilen. Das wirkliche einzige Interesse
für die grosse Kunst besteht darin, eine
Persönlichkeit zu sehen oder zu hören. Des-

halb geht das Publikum ins Theater.
Also wegen sinnlicher Eindrücke. Diese
sinnlichen Eindrücke sind in der Operette,
im Kabarett und besonders im Vari6t6 stär-
ker und vielfältiger als bei der hochgeehrten
Literatur. Darf man so grössenwahnsinnig
sein, dem Publikum die Freude an sinn-
lichen Eindrücken als Kulturschmach zu
verbittern. Ist nicht vielmehr diese Grösse
ein Wahn, die Sinneseindrücke unsinnlich
vergeistigen will. Es wird nicht gesagt,
dass Sinneseindrücke Kunst sind. Aber Kunst
wird nur durch die Sinne aufgenommen. Es
kann daher keine unsinnliche Kunst geben.
Der Mensch und der Gegenstand auf der
Bühne sind optische Eindrücke, das Wort
und der Ton akustische. Darüber kommt
keine Literatur hinweg. Jede Bewegung
auf der Bühne ist eine Veränderung der
optischen, jeder Klang eine Veränderung
des akustischen Eindrucks. Kunst entsteht
durch die künstlerisch logische Ordnung
dieser Bewegung. Diese Bewegung heisst in
der Kunst Rhythmus. Es gibt kein anderes
Ausdrucksmittel für die Kunst als die Be-
wegung, und die künstlerischen Beziehungen
der Bewegung in Wort, Ton, Farbe und
Form, also ihre Gestaltung, ergeben das
Kunstwerk. Es kommt also auf der Bühne
niemals darauf an, was gesagt wird. Es
kommt darauf an, wie die Wortverbindungen
durch den Tonfall künstlerisch gestaltet
sind. Schon im Leben werden die höchsten
und tiefsten Erregungen nicht durch das Wort
sondern durch den unartikulierten Klang
Ausdruck. Jeder Ausdruck innerer Bewe-
gung ist mit einer körperlichen äusseren
Bewegung verbunden. Einer Bewegung,
die in einer sinnfälligen und organischen
Beziehung zum Klang und zum Gefühl sich
offenbart. Da die Kunst nun einmal Kunst
ist und als einziges Ausdrucksmittel die
Bewegung hat, kann sie auch die Ruhe nur

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