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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Viertes Heft
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Walden, Herwarth: Shimmy
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Marinetti, Filippo Tommaso: Der Mietvertrag: Theatralische Synthese
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Marinetti, Filippo Tommaso: Jetzt kommen sie: Drama der Gegenstände
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0071

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Tanzlehrer und Tanzlehrerinnen fürchteten
den Ruin ihres ruinösen Berufes. Sie kennen
nur eine einzige Sorge, den Shimmy
gesellschaftsfähig zu machen. Das heisst:
ihn akademisch zu formulieren. Aus dem-
selben Grunde nehmen auch die Malprofes-
soren den Expressionismus in der Akademie
auf. Auch hier besteht nur noch die ein-
zige Schwierigkeit, zwar nicht die Schreib-
art, aber den Ursprung des Wortes Expres-
sionismus festzustellen. Aber der Shimmy
lässt sich nicht einordnen, weil er selbst
künstlerische Ordnung ist. Er ist
nicht Dekadenz, er ist Kadenz. Er ist freie
Gebundenheit und nicht gebundene Freiheit.
Er ist gebildet aus künstlerischem Instinkt
und nicht aus verbildetem Intellekt. Seine
Musik redet nicht die Sprache der Töne,
seine Musik tönt das Schweigen des Redens,
das Unaussprechliche. Hier fassen künst-
lerische Gesetze den Fuss und zwingen ihn
zur rhythmischen Gestaltung. Zwar wird
behauptet, dass der Shimmy leichter als
der Walzer zu erlernen sei. Der Unsinn
ist, dass man glaubt, der Wert der Kunst
hänge von der Schwierigkeit des Erlernens
ab. Kunst kann nicht erlernt werden. Kunst
ist sehr einfach. Kunst ist so einfach wie
das Leben. Kunst lebt in ihren organischen
Gesetzen wie das Leben in seinen. Schwierig-
keiten entstehen nur dadurch, dass man sie
künstlich verursacht. Dass man willkürlich
in das Unwillkürliche eingreift. Dass man
das Unmittelbare mittelbar macht. Die
Kunst greift das Leben. Das Leben begreift
die Kunst: denn immer mehr Menschen
beginnen, das Hören zu hören, das Sehen
zu sehen, das Bewegen zu bewegen.
Menschen bewegen sich.
Der Shimmy tanzt über verblühte Kulturen
Herwarth Walden

Der Mietvertrag
Theatralische Synthese
F« T. Marinetti
Das Schlafzimmer des Herrn Paul Dami.
Durch das Halbdunkel sieht man ein weisses
Bett. Paul Dami liegt in den letzten Zügen.
Der Freund tritt ein und wendet sich
zum Dienstmädchen: Paul liegt im Sterben?
Ist gar keine Hoffnung?

Das Dienstmädchen: Kaum ein
Schimmer von Hoffnung. Die Kugel ist
mitten durchs Herz gegangen.
Der Freund: Unbegreiflich! Sich wegen
dieser Frau das Leben zu nehmen.
Das Dienstmädchen: Aber nein!
Wegen der Wohnung hat er sich umge-
bracht. Ich werde Ihnen das Rätsel er-
klären. Sie wissen, dass Herr Dami wahn-
sinnig in diese Wohnung verliebt ist. Vor
einiger Zeit bat er den Wirt, er möge ihm
gestatten, ein Fenster zu öffnen, das nach
der Strasse hinausgeht. Er wollte von da
aus den grossen Festzug sehen. Und dieser
Idiot von Wirt hats ihm nicht erlaubt. Zu-
fällig erfuhr Herr Dami vor drei Tagen,
dass der Wirt mit einem neuen Mieter ver-
handelt. Der Gedanke, dass er diese ange-
betete und vergötterte Wohnung verlieren
könne, hat ihn vor Schmerz rasend gemacht.
Da griff er zum Revolver und schoss sich
eine Kugel in die Brust.
Paul Dami spricht im Fieber: Feuer! Es
brennt! Die Wohnung brennt! Ruft die
Feuerwehr! (Er versinkt wieder in tiefen
Schlaf.)
Der Arzt tritt ein, hinter ihm eine Dame,
blond, schwarz gekleidet, sehr elegant. Sie
nähert sich dem Bett des Sterbenden. Ihr
Gesicht ist dem Publikum zugewendet.
Der Freund (zum Arzt): Ist hier gar
nicht zu helfen?
Der Arzt (ernst und feierlich): Gar nicht.
Wenn ein Herr in eine Wohnung tritt, —
der Fall ist schwer, aber nicht ohne Hoff-
nung auf Heilung. Tritt jedoch die Wohnung
in den Herrn, dann gibt es keine Hoffnung
mehr.
In diesem Augenblick begibt sich die Dame
auf die andere Seite des Bettes, wobei sie
dem Publikum den Rücken zuwendet. Man
sieht auf ihrem Rücken ein Plakat, das die
Aufschrift trägt: Zu vermieten
^Vorhang

Jetzt kommen sie
Drama der Gegenstände
F. T. Marinetti
Ein Salon. Brennender Kronleuchter. Hinten,
links, eine offene Tür nach dem Garten.
An der linken Seitenwand ein grosser vier-

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