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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Viertes Heft
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Walden, Herwarth: Shimmy
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0069

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DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Shimmy
Der Komiker singt von der guten aiten Zeit.
Da haben die Frauen noch geflochten und
gewoben, insbesondere himmlische Rosen
ins irdische Leben. Und zwar so deutlich,
dass sie sogar jeder Kunstkritiker erkennen
konnte. Heute rauchen diese Damen Zi-
garetten, klagt der Komiker. Emanzipation,
vaschtehste. Die Herren hatten ihren König
und wussten daher, wie, wo und wem zu
gehorchen sei. Es war alles bestmöglich
eingerichtet. Hierzu noch vier Stunden
Unterricht in den Rundtänzen und man
beherrschte die Lebensfreude. Es wird
noch festgestellt, dass es früher billiger ge-
wesen und das Volk nicht begehrlich ge-
wesen sei. Die Herren Götter der ver-
schiedenen Konfessionen hatten das so
praktisch eingerichtet, und das Volk hatte
unter allen Umständen wenigstens die Re-
ligion im Leibe. Die bürgerliche Gesell-
schaft liebt es, sich an diese gute alte Zeit
durch einen Komiker erinnern zu lassen.
Man findet also die gute alte Zeit oder die
Gegenwart komisch. Also wird die Gegen-
wart nicht tragisch genommen, wenigstens
nicht von der bürgerlichen Gesellschaft.
Allgemeine Lebensfreude. Die Bürger ha-
ben an Selbstbewusstsein gewonnen und
fühlen sich so frei wie die Leute, die mit
Oelfarben oder Reimen hantieren und da-
durch dem besseren Volke die Kultur ge-
geben haben. Die Kultur ist eine sehr vor-
nehme Angelegenheit. Und hierzulande,
wo selbst die Denker dichten, Kaufleute
und Aerzte nicht verschmähen, sich in Oel
auszuleben, Frauen sich gehoben fühlen,
wenn sie Mitgliedern moralischer Anstalten
zur Verfügung liegen dürfen, hierzulande
haben wir eine Kultur, die Kultur, in der
die anderen Länder uns durchaus nicht
unterlegen sind. Und wenn wir auch den

Goethe haben, so können die Engländer
ebenso gut und billig aus Shakespeare
zitieren. Und wo die Zitate fehlen, stellt
man sich auf ein Bild von Rembrandt immer
noch zur rechten Zeit ein. Wir haben
allerseits so viele Kulturen, dass wir uns
mit dem bisschen Wurzelkram nicht mehr
zu befassen brauchen. Die Kulturen
werden gesammelt, gestapelt, gedruckt, ver-
fielfältigt, verkauft. In jeder Ausführung.
Zum Aussuchen. Für das Volk ent-
sprechend wohlfeiler. Ohne Lederrücken
oder im Rahmen nach Bauerngeschmack.
Es ist alles in bester Unordnung, was man
kulturell auch künstlerische Freiheit nennt.
Die geehrte Künstlerschaft bemüht sich,
das niedrige Volk unter 50000 Mark Ein-
kommen von seiner Kulturbedeutung zu
überzeugen, weil die Bürgerschaft ohne Hof
keine Hofnarren mehr braucht. Ausser-
dem ist die Lösung der sozialen Frage der
Narren dadurch erschwert worden, dass
das Totschlägen durch den Fortschritt der
Humanität gesetzlich geregelt wurde. Die
Künstlerschaft wendet sich also vertrauens-
voll an das Volk, das es dafür heben will.
Herr Moissi und Frau Durieux z. B. haben
ihm bereits persönlich Goethe und Schiller
vorgelesen, und ein sozialistischer Minister
wollte sogar seinen Lieblingsdichter
Flaischlen dem Volke einimpfen. Also es
steht gut um die Kultur.
Doch während sich noch alles mit den Ge-
hirnen sträubt, sträubt es sich nicht mehr
in Händen und Füssen. Bewegung jagt
durch die Masse und durch die Massen.
Der Shimmy tanzt über verblühte Kulturen.
Der Tanz wurde von der hohen Kunst aus-
geschlossen oder höchstens als Einlage
geduldet Man bewunderte höchstens neben
der Handfertigkeit der Jongleure die Fuss-
fertigkeit der Tänzer. Dafür herrschte der
Tanz ununterbrochen zu allen Zeiten, bei

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