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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Elftes Heft
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Walden, Herwarth: Versuch zur Reaktion
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0201

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DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Versuch zur Reaktion
Geist ist Abstraktion der Materie. Der Geist
der Zeit ist die Materialisierung der Ab-
straktion. Die Wichtigkeit der Materie ist
erkannt. Sie soll aber individualisiert
werden, damit sie geistig sei. Geistig genug
für die Individuen der Zeit. Die Individuen
sind unwesentlich materiell, möchten aber
das Materielle wesentlich machen, um sich
im Wesenlosen materiell sicher zu fühlen.
Auf das Wesenlose wollen die Individuen
nun einmal nicht verzichten, deshalb haben
sie eine Auffassung vom Wesenlosen. Geist
ist alles, denken sie persönlich, und sie be-
greifen den Geist, der sich nicht fassen,
aber auffassen lässt. Auffassung ist aber
stets Abstraktion der Materie und die Materie
lebt, indessen die Abstraktion schon lange
abstrahiert ist. Sie verschwindet unter den
Schritten und Griffen jeder neuen Jugend.
Wenn die Jugend schreiten und greifen
kann. Und das kann jede Jugend, wenn
sie in ihren Sinnen die Besinnung sucht,
nicht aber in den Sinnen der Anderen, in
dem Sinnen der Anderen. Abstraktion aus
der Abstraktion ist Geburt aus einer Leiche.
Jede Vergangenheit ist tot, also unsinnlich.
Nur das Sinnliche lebt. Und nur aus dem
Sinnlichen ist Unsinnliches zu abstrahieren.
Müssen Tote auferstehen, um das Leben
sichtbar zu machen. Hat irgendwie irgend-
wo irgendwann eine Wiedergeburt stattge-
funden. Ist die Geburt nicht schon W unders
genug, als dass man eine Wiedergeburt ab-
strahieren muss. Das Leben in Geist ist
der Körper in Spiritus. Verhinderung der
Verwesung, also Verhinderung des Lebens.
Denn die Verwesung ist wesentlich.
Die Verhinderung des Lebens wird von
der Kulturmenschheit Wissenschaft, die Ver-
hinderung der Sinne Kunst genannt. Die
Kulturmenschheit fühlt das Leben in La-

boratorien und Museen. Sie fühlt das Leben
durch das Leben der Anderen. Sie lässt
sich das Leben überliefern. Sie bildet sich
ihre Individualität nach Überlieferung. Sie
bildet sich ihre Sinne nach Abbildungen.
Und wenn sie sich irgend eine Überlieferung
eingeprägt hat, bekommt sie Charakter und
sogar Individualität. Man führt Krieg wie
Napoleon, man regiert wie Friedrich der
Grosse, man denkt wie Kant, man dichtet
wie Goethe, man malt wie Rembrandt, man
liebt wie Don Juan oder Lucrezia Borgia
und man lebt sogar wie irgend jemand, der
zu leben verstanden hat. Und wenn es
auch nur der Onkel gewesen ist. So fühlt
man sich als Kulturmensch oder fühlt man
sich als Geist So fühlt man sich als
Individualität. Die Qualität des Geistes
wird nach der Assoziation gewertet. Die
Assoziation nach der Quantität der Be-
teiligten.
Die optische Assoziation gilt als Kunst.
Als man endlich wieder erkannt hatte, was
Kunst ist, als man wieder Kunstwerke sah,
war den Kunstmalern die Kunst gelegt, da
sie sich nie auf das Handwerk gelegt hatten.
Noch weniger auf das Augenwerk. Sie
hatten nur und ausschliesslich mit der op-
tischen Assoziation gearbeitet. Der Reiz der
Individualität ging verloren. Das individu-
elle Publikum, die individuelle Kennerschaft,
die individuelle Presse war haltunglos. Sie
konnten sich an nichts im Bilde mehr halten.
Kein Mensch, kein Baum, nicht einmal der
Strohhalm war mehr zu sehen. Die Bilder
waren nur Farbformen, bei denen die Ein-
bildungskraftversagte, weil diese Einbildung
eben nur eine Assoziation war. Die Kunst-
maler mussten also logisch für sich und
wenigstens für die Kenner und die Presse
die Individualität wiederfinden. Das Publi-
kum hat sich indessen an die Kunst gewöhnt.
Und da der Reiz der Neuheit nicht fehlen

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