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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Sechstes Heft
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Walden, Herwarth: Asien
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0109

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DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Asien
Auch Bierwirte sind durchaus nicht minder-
wertig. Auch gegen Kaufleute ist nichts
einzuwenden. Auch nichts gegen russische
Juden. Hingegen ist der Geist Europas
bedenklich. Er wird vertreten durch Pro-
fessoren im Gehrock mit braunen Schuhen,
durch Künstler in Cafes ohne Musik und durch
Akademiker in Cafes mit Musik. Soweit
diese Künstler und Akademiker wirtschaft-
lich Proletarier sind, fühlen sie sich zu
Führern des Volkes berufen. Steckt jemand
sein Geld in sie hinein, werden sie sogar
Führer der Nation. Solange und bis da-
hin zahlen die gläubigen arbeitenden jun-
gen Mädchen für sie.
Warum soll man nicht glauben? Ziele sind
unerheblich. Auf den Glauben kommt es an.
Der Mensch ist gut, sagt die junge Literatur.
Sie ist nicht jung, diese Literatur. Denn
die Literatur ist der Geist Europas, der
Leben und Sinne und Kunst zu begrifflichen
Dingen gemacht hat. Man kann gegen den
Glauben protestieren. Aber der Protest ist
nie ein Glaube gewesen. Der Glaube ist
Kampf. Und Kampf ist Glaube.
In Europa glaubt man an Personen. An
Persönlichkeiten. Goethe hat es schon
gesagt. Höchstes Glück auf Erden. Der
Bierwirt ist keine Persönlichkeit. Er ver-
zapft Bier. Geist ist besser und sogar billiger.
Er ist sehr billig, der Geist Europas. Er bildet
sich etwas ein, weil er abgestanden ist und
nicht einmal Bier aus seinen alten Schläuchen
gibt. Der Kaufmann beruhigt sein händ-
lerisches Gewissen mit ihm, auf blutige
Schlachten folgt Gesang und Tanz. Alles
bringt Gewinn. Man muss es nur nicht aus-
üben, die Schlacht und den Gesang und
den Tanz. Man muss es andere ausüben
lassen. Dann blüht der Handel und es muss

doch Frühling und Sommer und Herbst und
Winter werden.
Der neue Geist Europas macht die Geschäfte
damit, das Volk zu befreien. Zu diesem
Zweck begibt sich die Wissenschaft nach
Lesbos, die Kunst nach Weimar und die
Politik nach Genua. Zwar keine Völker-
wanderung, aber die Persönlichkeiten sind
wieder einmal auf Reisen. Der König von
Italien fährt auf dem Schlachtschiff mit
Gesang und Tanz zu Herrn Tschitscherin, der
gerade den Erzbischof von Genua empfängt,
bei dem sich vorher Herr Rathenau die
Weihen geholt hat. Die Menschen sind gut. In
Weimar wird Goethe endlich auf eine mecha-
nische Formel gebracht, da Hindenburg end-
gültig vernagelt ist. Und Herr Dr. Hirschfeld,
der grosse, gründet Freundschaft auf Freund-
schaft. So machen sich alle alten Geister
ganz neu. Das Volk aber ist nicht im Ge-
ringsten darauf gespannt, was für ein Geist
verzapft wird. Es lässt die Persönlichkeiten
sich entgeistern und kämpft. Die Künstler
greifen ebenso dilettantisch wie in die Kunst
in die Politik ein, halten sich aber per-
sönlich wenigstens in den Cafes zurück.
Die jungen Mädchen überbringen indessen
die Befehle der Führer. Auch nachts.
Auch zu Fuss. Führer können nur in Autos
oder in Tanks gelenkt werden. Sie müssen
sich für das Allgemeinwohl schonen. Von
dem alten Geist Europas wird als gesund
nur die Lues übernommen.
Indessen spielt Asien in Schöneberg, wie
eben Asien spielt. Das europäische Russland
wächst zum russischen Europa. Die Steppe
dehnt sich über Städte aus. Die Steppe
ist keine Leere. Die Steppe ist Weite.
Augen sehen über Mauern den blauen
Vogel. Der zwitschert auf der Ebene, dass
die Sinne erwachen. Kein Gedanke trübt
die Weite. Hier ist Gemeinschaft zwischen

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