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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Zweites Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0029

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DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Kritik der vor-*'
expressionistischen Dichtung
Fortsetzung
Es wird für einen künstlerischen Menschen
nie zu begreifen sein, dass man die Ein-
teilung der Wörter in fünffüssige Jamben
je für eine Kunstform gehalten hat. Diese
Einteilung beweist die völlige Unkenntnis
künstlerischer Gesetze und nur unkünst-
lerische Menschen konnten darauf verfallen,
denn es liegen nicht etwa rythmische Geset-
ze vor, auch nicht etwa phonetische. Denn
die Dramensprache der Klassiker entsteht
aus Begriffen und ist nie nach Wort werten
komponiert. Und selbst die Begriffe, die
sogenannten Gedanken, werden mit einer
beispiellosen Unbeholfenheit vorgetragen.
Die handelnden Personen, die nicht Kunst-
formen sind, sondern Menschen darstellen
sollen, müssen ihre Erlebnisse und ihre
Empfindungen aussagen. Sie haben also
ein Interesse für den Leser nur insoweit, als er
sich eben für die Person interessiert. Ein
Zwang zur Anteilnahme wird durch die
Methode der Aussage nie erreicht. Auch
im Leben bedeuten Aussagen bekanntlich
nichts. Man wendet gegen den Expressio-
nismus ein, dass er nicht natürlich sei dass
er konstruiere. Ist ein Drama von Schiller
und Goehte etwa keine Konstruktion. Es
sind Konstruktionen, aber nur so unge-
schickte, dass sich die Balken biegen oder
gebrochen werden müssen. Schiller ist
zum Beispiel in der Jungfrau von Orleans
nicht einmal imstande, seine Konstruktion
in die fünf Akte seines Dramas unterzu-
bringen. Er braucht als Fundament noch
einen Prolog. Nur wird auf diesem Fun-
dament nichts aufgebaut. Es ist Material,
das verwendet wird, weil es vorhanden ist.
Ein Vater verheiratet in gehobener Stimmung
zwei Töchter, nicht ohne politische Anmer-

kungen und lässt von der dritten Tochter
schlimmes befürchten. Nämlich, dass sie die
Jungfrau von Orleans werden wird. Sie bestä-
tigt in einer ausführlichen Schilderung selbst
ihre Mission. Es ist also nicht einmal das
Hauptmittel künstlerischer Wirkung, die
Unmittelbarkeit erkannt. Es werden nur
in dieser gehobenen Sprache verstandge-
mässe Auseinandersetzungen gebracht.
Man nennt das bei den Klassikern Pathos.
Oder will jemand behaupten, dass diese
Wortverbindungen Eingebungen eines Trie-
bes sind, dass sie nicht vielmehr Professoren-
Gefühle auf Grund höherer Schulkennt-
nisse jsind:
„Dies Reich soll fallen, dieses Land des Ruhms
Das Schönste das die ewige Sonne sieht
in ihrem Lauf, das Paradies der Länder
das Gott liebt wie den Apfel seines Auges,
Die Fesseln tragen eines fremden Volks?
Hier scheiterte der Helden Macht, hier war
das erste Kreuz, das Gnadenbild erhöht,
Hier ruht der Staub des heiligen Ludewig
Von hier aus ward Jerusalem erobert.“
Worauf ein anderer Landmann antwortet:
„Hört ihre Rede! woher schöpfte sie
die hohe Offenbarung? — Vater Arc.“
Dadurch, dass man von einer Offenbarung
spricht, wird sie nicht künstlerisch sicht-
bar. Durch eine Ueberredung entsteht nie
eine Ueberzeugung. In diesem Fall über-
redet der Autor die Jungfrau, an eine
Mission auf Grund seiner geschichtlichen
Kenntnisse glauben zu wollen. Es werden
nicht einmal seelische Erlebnisse geschil-
dert, wie behauptet wird. Es finden über-
haupt keine Erlebnisse statt. Auf Grund
von Geschehnissen wird eine Begeisterung
konstruiert, die keinen Grund hat, weil sie
unnatürlich und unkünstlerisch ist. Der

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