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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Erstes Heft
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Walden, Herwarth: Theater
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Walden, Herwarth: Handbewegung
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0013

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gen. Man kann sich auch an einen künst-
lerisch gedeckten Tisch unkünstlerisch
hin setzen. Man kann sich aber auch an
einen*unkünstlerisch gedeckten Tisch künst-
lerisch hinsetzen. Die Kunst, mag man selbst
darunter verstehen, was man will, kann sich
nämlich nie auf einen Teil, sondern nur
auf das Ganze beziehen und diese Beziehun-
gen der Teile zum Ganzen ist eben die
Kunst. Im Spiel des Moskauer Theaters
ist nichts Zufall, aber alles Gestaltung. Es
steht daher dem Expressionismus näher,
als alle Versuche deutscher Bühnen.
Die deutschen Bühnen können nur noch
Einzelleistungen zeigen. Und auch diese
Einzelleistungen sind zu zählen, da statt
Schauspieler sich Intellektuelle abmühen.
Die Herren und Damen stammen aus der
besten Gesellschaft, was in der Kunst aber
nichts hilft. Die Darsteller machen aus
dem Spiel eine Wissenschaft und die Lite-
raten aus der Liebe einen Reigen. Nennt
man das Ganze Expressionismus, ist die
Kennerschaft befriedigt.
Man spielt jetzt in Berlin ein Stück von
Herrn Bisson, das schliesslich auch nicht
schlechter als ein Stück von Gerhart
Hauptmann ist. Beide Herren schreiben
etwas auf, was sie persönlich erlebt oder
gehört haben. Ihren Bekannten geht es
meistens sehr schlecht, meistens im so-
genannten Innenleben, was man dann auf
Hochgriechisch Tragödie nennt. Herr
Hauptmann misst sogar die deutsche Sprache
neuerdings nach Hexametern ab. Das Messen
soll übrigens gar keine so grosse Kunst
sein. Aber immerhin hohe Kunst. Während
Herr Bisson wenigstens den Vorzug geniesst,
aus einem Buchfranzösisch in ein Schul-
deutsch übersetzt zu sein. In der Vorstellung
dieses Stückes des Herrn Bisson Die fremde
Frau, was die Uebersetzung von Madame X
sein soll, ist eine Einzelleistung, wie sie
seit dem Tode von Oskar Sauer auf einer
deutschen Bühne nicht mehr gesehen ist.
Hier steht eine Frau auf der Bühne, Rosa
Valetti, die unpersönlich künstlerisch ge-
staltet. Hier steht eine Künstlerin auf der
Bühne, die das Wesen der Kunst, die Ge-
staltung der Beziehungen optischer und
akustischer Momente erkannt oder triebhaft
gefühlt hat. Sie hat das künstlerische Ge-
heimnis erkannt, dass auch das Schweigen
gestaltet werden muss. Dass auf der Bühne

der Wechsel zwischen Sichtbarem und Hör-
barem in Beziehung gebracht werden muss.
Dass das Sprechen auf der Bühne nicht
den Zweck hat, Gedanken eines Schiftbe-
flissenen zu übermitteln. Wörter sind Ton-
formen von Instinkten. Tonförmen, die
primär greifen und sekundär begriffen wer-
den können. Die unkünstlerischen Wort-
verbindungen werden durch den Tonfall
in eine künstlerische Verbindung gebracht.
Ueber die Begriflslogik der Sätze hinaus
entsteht die künstlerische Logik des rhyth-
mischen Tonfalls. Ueber die Zufälligkeit
automatischer Bewegungen hinaus wird die
optisch organische Gliederung der Gliedbe-
wegungen geschaffen. Das kann Rosa
Valetti. Sie ist nicht eine fremde Frau, auch
nicht die fremde Frau des Herrn Bisson. Sie
ist Gestaltung von Trieben. Es ergreift nur,
wer ergreifen kann. Wer falsch greift, oder
wer nur so tut, als ob er greifen will oder
greifen kann, wird nie ergreifen. Zu be-
greifen, dass jemand greifen will, ist keine
Kunst. Es ist die Feststellung einer nicht
geschehenen Tat. Und wenn ein Tonfall
gegen den sogenannten Sinn des Satzes
stösst und der Satz zerfällt, bedeutet das
nur, dass der Widerstand des unkünstleri-
schen Satzes durch die Kraft des künstle-
rischen Tonfalls überwunden ist. In der
Leistung der Rosa Valetti liegt die künst-
lerische Offenbarung vor, die man heute
zur Unterscheidung von grundsätzlich un-
künstlerischen Bemühungen Expressionis-
mus nennt.
Vom Kabarett will ich noch drei Namen
nennen, Künstler, die triebhaft im Sinn des
Expressionismus gestalten: Blandine
Ebinger, Lotte Werkmeister und
Annemarie Hase. Hingegen sind sämtliche
Herren vom Kabarett mit dem Studium der
höheren Bildung und der besseren Litera-
tur beschäftigt, sodass ihnen für das bisschen
Kunst äusser der fehlenden Begabung auch
die Zeit fehlt. Frauen haben überhaupt in
dieser Zeit die stärkeren künstlerischen
Instinkte, weil sie zum grössten Teil nicht
Wissenschaft und Kunstgeschichte studiert
haben. Der Gedächtniskram verstopft die
Sinne. Und zur Kunst kommt man nicht
durch den Sinn, sondern nur durch die
Sinne. Herwarth Walden.

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