Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

DOI Heft:
Neuntes Heft
DOI Artikel:
Schwitters, Kurt: Tran 23
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0172

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Tran 23


(Der Kritiker visavis der absoluten Stofflichkeit)
Herr Oskar Bie ist ein köstlicher Humorist. Er schreibt in einer Besprechung der Thoma-
Ausstellung (Ueberschrift: Deutsche Malerei.) im Kronprinzenpalais: „Hier zu Hause sitze
ich vor der reinen Stoffllichkeit, und Temperament und Vortrag schämen sich.” Ich bin
nicht sentimental, aber dieses seltene Bekenntnis rührt mich. Solche Bekenntnisse sind
wirklich sehr selten. Herr Bie schreibt: „Es ist eine wahre Erholung, einmal stofflich
sein zu dürfen. Die wenigsten Kunstfreunde geben zu, dass sie diesem Reize unterliegen.“
Es ist mir nicht ganz klar geworden, dem Reize welcher Stofflichkeit unterliegen denn
nun die meisten „Kunst“freunde? (Kunstfreund ist nicht Stofffreund.) Man kann doch
nicht bei „Kunstfreunden von der sogenannten Stoffelichkeit sprechen, ebensowenig wie bei
den Herren Kritikern. Das wäre vielleicht übertrieben ausgedrückt. Jeder, so gut er kann.
Und wenn einer statt einer Kritik sentimentalen Unsinn schreibt, so ist das eben sentimen-
taler Unsinn, aber doch nicht Stoffelichkeit. Also etwa anzunehmen, die meisten Kunst-
freunde unterliegen, ohne es zuzugeben, der eigenen Stoffelichkeit oder der Stoffelichkeit
der Herren Kritiker, dieses anzunehmen wäre unbedingt falsche Interpretation, falsche Ar-
gumentation. Gemeint sein kann hier nur die Stofflichkeit des Kunstwerkes. Herr Bie
spricht von Stoffreiz, und damit ist wohl der Irrtum einer falschen Argupretation ausge-
schlossen. Voran die lustig hüpfenden Ziegen. („Ich bin garnicht sentimental.“) Was ge-
meint ist, das definiert Herr Bie ohne jede Sentimentalität folgendermassen: „diese rei-
zenden roten Dächer im Grünen, diese satten aufsteigenden Wolken, dies gemütlich rollende
Meer, diese Wiesen und Gehöfte, diese braune Erde, diese märchenhaften Wasserfälle, diese
Herden von Tieren, voran die lustig hüpfenden Ziegen.“ Hinterher die gemütlich rollen-
den Kritiker.
Sehr geehrter Herr Bie! Hier kann ich ihre Logik nicht billigen. Haben Sie denn auf
Thomas Bildern den Reiz der Stofflichkeit gesehen? Sie irren sich nämlich, Sie meinen
etwas Anderes. Damit Sie mich nicht missverstehen, ich sage hier nichts über oder etwa
gar gegen Thomas Bilder, sie sind mir hier gleichgültig. Sie meinen nicht den Reiz der
Stofflichkeit der Bilder, die Sie gesehen haben, sondern den Reiz der auf den Bildern
wiedergegebenen Natur. Ich gebe zu, mit Recht; ein gemütlich rollendes Meer, voran die
lustig hüpfenden Ziegen, muss unbedingt reizend sein. Und deutsch. In Frankreich rollt
das Meer ungemütlich, in England hüpfen die Ziegen traurig. Sie schreiben: „Deutsche
Kunst ist doch wirklich nur sachliche Kunst.“ Dann werden Sie mir zugeben, dass deutsche
Kritik doch wirklich nur sachliche Kritik ist. Leider ist Ihre Kritik nicht deutsch, sie ist
nicht sachlich. Sie haben natürlich Recht, wenn Sie behaupten, kein Kritiker wäre sach-
lich. Das ist nur eine Folge der eingebildeten Macht dieser Herren. Zuletzt aber schaden
sic nur ihrer Kritik und sich, aber nicht der Kunst, die sie vielleicht schädigen wollen.
Kritiker schreiben sich meist ins eigene Fleisch, wenn sie schneiden wollen. Sie selbst
nun, Herr Bie, lassen den „Stoff so stark auf sich wirken, dass Sie die Kunst dabei ver-
gessen.“ Das geben Sie also zu. Aber was soll ich als Künstler dazu sagen? Soll ich
ruhig zusehen, wenn ein Kritiker die Kunst vergisst? Soll ich das, was ein Kritiker schreibt,
der die Kunst vergessen hat, eine sachliche, eine deutsche Kritik nennen? Sie „weinen
Tränen der Rührung“, aber die Kunst kommt zu kurz dabei. Kritisiere Kritiker, weine
nicht! Auch deutsche Kritiker sollten nicht weinen. Sentimental sind Sie nicht, voran
die lustig hüpfenden, gemütlichen Oberlehrer, hinterdrein die traurig hinkenden Ziegen.

1 36
 
Annotationen