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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Neuntes Heft
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Schwitters, Kurt: Tran 23
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0173

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Sie sprechen von dem „lieben Gott Thomas“, der „sehr familiär und patriarchalisch“ ist.
„Er sitzt mit Thoma und raucht seine Pfeife mit ihm.“ Wirklich, diese Familiarität des
lieben Gottes, Specialausgabe für Thoma, ist köstlich. Aber wo bleibt die Kunst, wenn
Sie „nicht“ sentimental sind? (Voran die lustig rauchende Tabakpfeife.) Beurteilen Sie
doch einmal nur zum Spass die Werke des Künstlers selbst, nicht den Stoffreiz der dar-
gestellten Natur, echt, einfach, sachlich, ich behaupte, Sie können es nicht.


Absoluter Stoff

Sehr geehrter Herr Bie! Sie lieben den Stoffreiz. Da schlage ich Ihnen vor, besuchen Sie
doch einmal die Kunstausstellung „Der Sturm“, Berlin W 9, Potsdamer Str. 134a. Und
sehen Sie sich meine Merzbilder an, z. B. Franz Müllers Drahtfrühling. Lassen Sie sich
nicht dadurch stören, dass ich sentimental bin. Dann werden Sie Ihre helle Freude haben.
Sie werden dort in den Merzbildern die denkbar konsequenteste Gestaltung verschiedener
Stofflichkeit in einem Bilde finden. Sie werden den guten alten Thoma, ich sage nichts
gegen ihn, darüber vergessen. Auch Ihre starke Vorliebe für das deutsche Wesen kommt
dort auf ihre Bechnung. Ich versichere Sie, dass sämtliche verwendeten Stoffe und Stoff-
reste, echt deutsch, auf deutschen Müllhaufen gesammelt sind. Und Sie werden, da Sie
ja doch die Gestaltung nicht sehen können, Gelegenheit haben, zu staunen, welche Schätze
man auf deutschen Müllhaufen finden kann. Ich freue mich auf Ihre Kritik. Sie werden
schreiben: „Diese reizenden roten Haare auf der schimmeligen Perücke, diese satten auf-
steigenden Bindfäden, dies gemütlich rollende Gebiss, diese Reibeisen und Trichter, dieses
braune Packpapier, diese märchenhaften Stacheldrähte, diese Herden von Bacillen, alles
chemisch gereinigt, voran die munter hüpfenden Wanzen!“ Nicht wahr? Und deutsche
Wanzen, jeder Blutstropfen ist deutsch. Schreiben Sie für das Berliner Tageblatt einen
Artikel: „Kurt Schwitters deutsche Wanzen“, das passt so gut zu dem Programm. Sie
werden mir Recht geben, im Sturm ist „mitten in dem Sturm von expressionistischen und
futuristischen Künsteleien, den wir über uns ergehen lassen müssen, eine süsse Windstille,
eine heimatliche Oase.“ Dieser Satz von Ihnen ist nicht schön, aber auf den Sturm be-
zogen passt er sehr gut. Gehen Sie hin, ich sage Ihnen, Sie „schmunzeln mit den Augen.“
Dort werden keine „technischen Exaltationen befriedigt“, „und die lieben Engel vergessen
nie, dass sie Kinder sind.“ Kurt Schwitters
 
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