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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Sechstes Heft
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Mager, Jörg: Vierteltonmusik
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0121

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Örgelbaufirma Steinmeyer, Öttingen in
Schwaben, stellte mir eine Kiste voll nagel-
neuer Zinnpfeifen zur Verfügung. Diese
Pfeifen konnten sehr leicht um einen Viertel-
ton tiefer oder höher gestimmt werden. Dabei
verfuhr ich natürlich nicht physikalisch-
wissenschaftlich, sondern musikalisch-em-
pirisch. Ich stimmte solange hinauf oder
hinab und zwar mit Hilfe des Klaviers, bis
ich z. B. bei einer c-Pfeife eine Tonerhöhung
erreicht hatte, die — dem Ohre nach —
gleich weit von dem c und dem cis ent-
fernt war, also in der Mitte zwischen diesen
zwei Tönen „lag“.
Mein Viertelton ist also die Hälfte des tempe-
rierten Halbtones; mit Hilfe des Oktaven-
masses 412/s m (m-Millioktav), wie mir der
bekannte Vorkämpfer für die Eitzsche-Ton-
wortgesangsmethode, Raimund Heuler,
Würzburg berechnete. Meine Buben bliesen
nun solche Viertelton-Pfeifen an, während
ich auf dem Klaviere hierzu Halbtöne an-
schlug. Es ergaben sich dadurch nicht
wenige, so interessante Tonmischungen, dass
ich nun auch den weiteren Schritt wagen
wollte, ein eigenes Instrument zu schaffen,
um darauf solche Viertelton-Experimental-
musik treiben zu können. Bevor ich mich
aber als Proletarier zu den hierzu nötigen
finanziellen Opfern verstehen konnte, wollte
ich mich doch erst noch von einer musi-
kalischen Autorität beraten lassen, natürlich
von einem musikalischen „Modernisten“.
Kurzweg schrieb ich an Richard Strauss und
erhielt 1911 die Mitteilung: „Die Frage der
Viertelstöne ist sicher sehr interessant und
eingehenden Studiums immerhin wert. Ob
unsere Musik wirklich dieser feineren Diffe-
renzierung zusteuert, darüber mässe ich mir
kein Urteil an. Ich werde wohl für den
Rest meines Lebens mit der Halbton-Ton-
leiter auskommen.“
Natürlich schöpfte ich aus diesen aufmun-
ternden Worten neuen Mut für meine Ver-
suche, und ohne mit meiner Kasse lange
Rücksprache zu halten, beauftragte ich die
Orgelbaufirma Steinmeyer nach meinen
Angaben ein Vierteltonharmonium zu bauen.
Inzwischen fiel mir ein Aufsatz über „Zi-
geunertonleitern und Vierteltonmusik“ von
Georg Capellen, München („Hochland“-
Februarheft 1911) in die Hände,
Georg Capellen führt hier u. a. aus, dass „die
Entscheidung über die Einführung die Ent-

wicklung der Vierteltonmusik im Okzident
fallen müsse“. Er hat seine Zigeunerton-
leitern auf der Müllerschen Akkordzither
„Monopol“ dargestellt. Er stimmte z. B.
den As Dur Klang und C moll Klang in
reiner, den G Dur und H moll Klang in
temperierter Stimmung und zwar in zwei-
erlei Weise. Entweder werden alle Töne
rein gestimmt, dadurch entstehen „zwei
wundervolle klingende Dur Akkorde“ und
schärfere, herbere Mollklänge. Oder es wird
ein reiner As Dur und G moll Klang ge-
stimmt und der G Dur und H moll Klang
aber temperiert genommen. „Dadurch wür-
den die Akkordnuancen noch mannigfal-
tiger“. Capellen spricht dabei den Wunsch
aus, „es wäre sehr schön, wenn es ein ein-
faches, billiges wohlklingendes Instrument
gäbe, an dem diese Umstimmungen leicht
ausgeführt und studiert werden könnten“.
Dieser Wunsch Capellens war mir eine
wertvolle Bestätigung für die Richtigkeit
meines Harmoniumprojektes.
Capellen machte mich auf seinen Aufsatz
„Vierteltöne als wesentliche Tonleiterstufen“
(Märzheft der „Musik“ 1912) aufmerksam.
Ich erfuhr hierin von der 53-stufigen gleich-
schwebenden Temperatur, die schon
Helmholtz, G. Engel, Drobisch, Tanaka als
brauchbar empfahlen, von den 36 Stufen
Hugo Riemanns und dem 18-dritteltonsystem
Busonis; ferner von den zwei Konzert-
stücken für Violincello und Klavier von
Richard H. Stein (im Vierteltonsystem). Be-
sonders ermutigte mich ein Zitat aus Geisslers
Aufsatz „Sehnsucht nach den Vierteltönen“
(Januarheft der Neuen Musikzeitung 1908),
das einer Vierteltonbroschüre nicht vorent-
halten werden darf: „Was wir heute selbst-
gefällig als Chromatik bezeichnen, ist im
Grunde nur eine ziemlich rohe Entharmonik,
von der uns mit der Zeit zu befreien eine
Notwendigkeit sein wird“.
Bei all seinem Interesse, seinem Eifer für
die Vierteltonforschung verhält sich Capellen
zur Viertelton-Musik recht kleingläubig.
Während ich Richard Stein als den Viertel-
tonoptimisten anführen will, möchte ich
Capellen als den Viertelton-Skeptiker be-
zeichnen. Jetzt schon können manche seiner
Hauptbedenken entkräftet werden. In je-
nem Aufsatze zweifelt er „ob wir wirklich
im Stande sind, ßruchtonstufen als selbst-
ständige Töne zu hören und zu unter-

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