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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Neuntes Heft
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Schreyer, Lothar: Das Wort
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0161

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DER STURM
MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

Das Wort
Lothar Schreyer
1. Die Entwicklung des Wortes
Im Anfang war das Wort
Die Erkenntnis des Evangelisten Johannes
ist in den letzten Jahrhunderten den Men-
schen ein Geheimnis gewesen, das sich
erst in der Gegenwart wieder zu enthüllen
beginnt.
Die Zeiten, in denen das Wort ein Ge-
heimnis ist, sind die Zeiten der Entwick-
lung des Wortes.
Entwicklung ist dezentrische Veränderung
der Gestalt des Wesens. Entwicklung be-
rührt das Wesen nicht. Das Wesen wird
durch sie nicht zerstört oder verändert.
Die Entwicklung zerstört auch nicht die
Gestalt des Wesens. Aber die Entwicklung
ändert die Gestalt.
Änderung ist Bewegung. Entwicklung ist
Auseinanderbewegung eines Wickels. Ein
Knäuel Garn, ein Wickel, ist eine Gestalt,
als die wir das Garn wahrnehmen. Wird
der Wickel entwickelt, auseinanderge-
wickelt, so wird das Garn nicht zerstört
od$r verändert. Auch die Gestalt des
Wickels wird nicht zerstört. Wenn durch
die Entwicklung die Gestalt des Wickels
zerstört wäre, könnte aus dem auseinan-
dergewickelten Garn der Wickel nicht
wiederhergestellt werden.
Der Wickel kann aber immer wiederher-
gestellt werden. Es hat sich also nur eine
Veränderung der Gestalt vollzogen. Die
Entwicklung der Welten im Weltall ist ein
entsprechender Vorgang. Die Welten ent-
wickeln sich durch dezentrische Ausein-
anderbewegung im Weltall. So entstehen
Weltkörper. So stehen Weltkörper ausein-
ander.
Die dezentrische Bewegung der Entwick-

lung geht vom Mittelpunkt einer Gestalt
aus und entfernt sich von ihm.
Die Entwicklung des Wortes ist ein ent-
sprechender Vorgang.
Die Gestalt des Wesens Wort hat einen
Mittelpunkt. In der Gestalt des Wesens
Wort geht eine Bewegung vor sich. Diese
Bewegung geht vom Mittelpunkt aus und
entfernt sich ständig von ihm. Die Be-
wegung wickelt die Gestalt des Wortes
auseinander.
Die Entwicklung des Menschen ist ein ent-
sprechender Vorgang.
Da die entwickelnde Bewegung ständige
Entfernung vom Mittelpunkt ist, entfernt
sich der Mensch ständig vom Mittelpunkt
der Gestalt seines Wesens, solange er in
der Entwicklung ist. Die meisten Men-
schen haben sich so weit entwickelt, dass
ihnen der Mittelpunkt nicht bewusst ist.
Um seinen Mittelpunkt zu erkennen, muss
der Mensch sich umkehren.
Diese Umkehr ist der Sinn der Weltwende.
Voraussetzung der Umkehr ist die Erkennt-
nis, dass die Entwicklung den Menschen
vom Mittelpunkt der Gestalt des Wesens
Mensch entfernt.
Der Mensch ist der Träger des Wortes.
So lange der Mensch in der Entwicklung
ist, so lange er sich von seinem*Mittel-
punkt entfernt, so lange entfernt sich auch
das Wort von dem Mittelpunkt der Gestalt
des Wesens Wort, so lange entwickelt sich
das Wort des Menschen. Der entwickelnde
Mensch vermag nicht den Mittelpunkt der
/Gestalt des Wesens Wort zu erkennen.
Die entwickelnden Menschen versuchen
den Sinn der Gestalt ihres Wesens zu er-
kennen. Da sie aber in der Entwicklung
sind, die Veränderung ist, können sie die
Gestalt ihres Wesens nicht kennen und
den Sinn dieser Gestalt nicht erkennen.
Sie kennen nur die Wirkungen der Ver-

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