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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Elftes Heft
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Schwitters, Kurt: Franz Müllers Drahtfrühling
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0209

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Friedrich August hatte es infolgedessen auch
nicht leicht, einen Schutzmann zu finden,
und als er einen gefunden hatte, denselben
zu überzeugen, dass hier seine Mitwirkung
erforderlich wäre. (Sois donc gentile.) Der
Beamte hatte nämlich die falsche Meinung
gehabt, dass er etwa den Volksredner Alves
Bäsenstiel festnehmen sollte; als er jedoch
erfuhr, dass es sich nur um einen Mann
handele, der blos dumm dastände, kam er
sofort mit
„Mein Herr,“ sagte er zu dem Manne. Der
Mann steht. „Ich muss, so leid es mir tut,
Ihre Personalien feststellen.“ — Der Mann
steht. „Wie heissen Sie?“ — Der Mann steht
Anna Blume lebte Welten in einer Minute.
Der Mann steht. „Im Namen des Gesetzes
sind Sie verhaftet.“ Der Mann steht „Der
Mann hat das Volk beleidigt,“ sagte Alves
Bäsenstiel. „Der Mann hat nichts getan, er
hat blos dagestanden,“ sagte Frau Schön.
„Kommen Sie,“ sagte der Beamte und hob
seinen rechten Arm. Der Mann steht. „Eine
Weigerung würde einer Beamtenbeleidigung
gleichkommen.“
Da geschah das Unerhörte. Der Mann
wandte den Kopf zur Seite. Schreck wühlte
Augenlichter zischen Eingeweide. Der Po-
lizist lächelte einen lakierten Apfel. Das
Publikum war auf das Äusserste gespannt,
man wartete irrsinnig, was sich ereignen
würde. Einige sahen schon wieder den
Namen P-R-A mit nur grossen Anfangsbuch-
staben, nach Muster gefärbt. Ein junger
Künstler rief dazwischen: „An sich ist ein
Künstler doch etwas Lächerliches, haben
Sie nicht auch . das Empfinden.“ (Spart
Licht und Heizung!) Die Letzten von den
Zuschauern stellten sich auf die Zehen-
spitzen. (Die Männer schwindeln ja alle.)
Ein Kind wurde zwischen zwei dicken
Frauen zerquetscht. (Bin ich nicht ein süsser
Fratz?) Man warf die schlappen Überreste
des Kindes achtlos unter die Füsse. (Das
Auge sieht den Himmel offen.) Einige kleinere
Leute bemächtigten sich des Leichnams und
stellten sich darauf, weil sie doch auch
etwas sehen wollten. Frau Dr. Amalie auf
der Basenbank fühlte schmerzhaft, dass sie
nicht mehr im Mittelpunkte des lebhaftesten
Interesses stünde. (WeisstDu es Anna, weisst
Du es schon, man kann dich auch von
hinten lesen, und Du, Du Herrlichste von
allen, Du bist von hinten wie von vorne

Q-R-S-T-U-V-W-Z.) Warte nur, balde, ruhest
Du auch. Dieses Wort „balde“ gehört
zweifelsohne zu den schönsten Erfindungen
der Neuzeit. „Kommen Sie,“ sagte der Be-
amte und hob das linke Bein. Der Mann
steht. „Kommen Sie“, sagte der Beamte und
hob den rechten Arm. Der Mann steht.
„Mein Herr, wenn Sie nicht sofort mit-
kommen,“ der Mann steht, „hole ich Ver-
stärkung“.
Da geschah das Unerhörteste. Langsam und
mit der Ruhe einer vollkommenen Maschine
ging der Mann, freundlich nach allen Seiten
grüssend, aber nicht mit dem Beamten,
sondern in entgegengesetzter Richtung. Die
Weiber kreischen, die Männer staunen
Bäume, die Kinder liefen Schrei. Frau Dr.
Amalie fühl in ihre zweite Ohnmacht, wo-
bei es ihr sehr zu statten kam, dass sie noch
auf der Rasenbank ruhte. Der Beamte aber
stand, wie der Mann vorher gestanden
hatte; und der Mann ging.
In kurzer Zeit bot der Schauplatz der Hand-
lung ganz deutlich das Bild einer gewalti-
gen Explosion. Wie der Pulverturm platzt
durch den zündenden Funken, so liefen die
Leute wie von einer plötzlichen Panik er-
griffen nach allen Seiten auseinander.Tumult
jagte Entsetzen wilde Flucht. Einige stol-
perten über den Leichnam des zerquetsch-
ten Kindes und fielen. Diese Unglücklichen
wurden von der rasenden Menge totge-
treten. Frau Dr. Amalie bekam bei dieser
Gelegenheit einen Fusstritt in die Gegend
des Bauches und erwachte infolgedessen re-
lativ schnell aus ihrer zweiten Ohnmacht, um
in die dritte zufallen. Genau wie bei der
Explosion einige Grundmauern unverletzt
stehen bleiben, so waren hier fünf Menschen
stehen geblieben, die Leichen nicht mit-
gerechnet; auch der Beamte stand und nahm
das Protokoll auf.
Er notierte, dass ein Unbekannter, dessen
Personalien infolge von Schwerhörigkeit oder
Widersetzlichkeit, oder aus einem dritten
Grunde, oder aus einem vierten Grunde
leider nachträglich nicht mehr festgestellt
werden konnten, welcher auch den um-
stehenden Anwesenden leider nicht bekannt
gewesen wäre, durch ungesetzliches Betragen
den Tod von eins, zwei, drei, vier, fünf,
sechs Bürgern und einem Kinde des Frei-
staates Revon verschuldet habe. Infolge-
dessen habe sich der unterzeichnete Beamte

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