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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 20.1929-1930

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Heft 1
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Václavek, Bedřich: Entfesselte Poesie: Glossen zur Methode der reinen Lyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.47222#0012

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Entfesselte Poesie
Glossen zur Methode der reinen Lyrik
B. Väclavek
Seiferts*) Wendung von der „proletarischen“
Poesie zur reinen Lyrik wurde durch eine
Italien-Frankreich-Reise unterstützt. Er er-
lebte auf ihr das, was dem neuen Dichter
unbedingt notwendig ist: Das rapide Tempo
des sich schnell über weite Entfernungen
bewegenden Menschen, bis sich die weiten
Räume des Erdballs in dem Bewußtsein des
Menschen in ein einziges Ganze verdichten.
Seine Phantasie kam in Fluß und blieb aktiv
auch nach dem Abflauen des ursprünglichen,
überwältigenden Erlebnisses. Dadurch ver-
schwand aus seinen Gedichten der Satz, als
das Ganze, mittels welchen wir unsere Empirie
mitteilen, uns miteinander verständigen, und
blieb nur ein Strom von Vorstellungen,
„Poesie, ewiger Wasserfall“, mittels dessen
wir träumen. Die Sprache braucht nicht
mehr ins logische Gefüge der Sätze artikuliert
zu werden (es erübrigt sich also auch die
Interpunktion), Worte und Sätze fügen sich
in größere und autonome Gefüge der Verse
ein. Seifert gab sich gänzlich und leiden-
schaftlich seinem poetischen Handwerk hin,
indem er die Grenzen und Verbindungen,
die Gliederung der wirklichen Welt vergaß.
Die Dinge sind verloren gegangen, was
ihre wirkliche Bedeutsamkeit im praktischen
Leben betrifft, sie leben nur als Träger der
poetischen Emotion; sie verloren ihr empiri-
sches Gesicht und existieren nur noch in
*) Der tschechische Dichter Jaroslav Seifert, dessen
Gedichte aus dem Buche „Auf den Wellen der T.5.F.“
(tschechisch) zum Ausgangspunkt dieser Studie dienen,
gab zuerst zwei Bücher „proletarischer“ Lyrik heraus.
Seine letzten zwei Bücher enthalten aber reine Lyrik
stark surrealistischer Prägung.

ihrem poetischen Sein. Und so erlebt Seifert
in diesem Buch, das thematisch der prole-
tarischen Welt fremd ist, eine Revolution,
zu der er, ein proletarischer Primitiv, ziemlich
spät gelangt, in der jedoch das Wesen der
ästhetischen Revolution auf dem Uebergange
von der bürgerlichen Welt zu der Welt der
künftigen Sozietät beruht: Er überwindet
die Herrschaft der Dinge, die in der Kunst
der bürgerliche Künstler-Individualist etabliert
ha:te, der in seiner fetischistischen, von ihrer
menschlichen Herkunft und Bedingtheit ab-
strahierenden Ehrfurcht vor ihrer rätsel-
haften, unberechenbaren Macht sie in der
Kunst zu verehren begann. Seifert stürzte
die Herrschaft der Dinge, der empirisch be-
schränkten Erscheinungen. Sie müssen sich
wieder dem Menschen unterordnen, existieren
nur für den Menschen, menschlich, sind
in der Kunst nur Material, nicht Ziel und
Herrscher. Die Ethik verliert in dieser
dimensionalen reinen Anschauung den Boden.
Früher hat Seifert stürmische, revolutionär
pointierte Verse über die im Kriege ver-
krüppelten Soldaten geschrieben. Wenn er
jetzt einfach konstatierend sagt: „und Herr
Blaise Cendras verlor im Kriege die
Hand“, spürt man, wie ihn nur die poetische
Seite der Sache, ihre Traurigkeit interessiert
und wie nur sie in seinem Verse lebt. Er
hat die Welt auf den Kopf gestellt, sieht nur
ihren Kern, ihre Wesenheit, gleichgültig bleibt
ihm aber ihre immanente Logik - „die
heil gen Vögel auf dünnen Beine i wie
Schatten wiegeln das Geschick der
Welten“ -, man kann sie ebenso umge-
kehrt begreifen wie von der Ursache zur
Folge, denn darum handelt es sich nicht, es
geht nur um Poesie. Es verschwand die Ver-
gangenheit, die Gegenwart und die Zukunft,
es verschwanden die Entfernungen der Erde,
und bleibt nur ein einziger, homogener

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