Jonny Gugru
Rudolf Meissner
Jonny wandert um zwanzig- Uhr.
Die Nerven, die die lebenden Bilder der
Netzhaut an das Gehirn drahten, reagieren
nur noch auf das Bild:
Straße.
Jonny zeigt auf einen Laternen^fähl. „Ich
will einen Tag lang die Seele die^hlfLaternen-
pfahls sein. In den Büchern muß ich den
Weg erforschen, der meinen Geist zur Ver-
senkung führt in jeden Gegenstand, in jeden
Laternenpfahl. Das Erlebnis, etwas zu be-
deuten, eine Straße zu beleuchten, einen
scharfen Schatten zu verschenken an sieben-
zig Passanten, raube ich der Gaslaterne, die
tot ist und von dem Raub nichts weiß.“
Bäume und Rummelplätze verschwinden am
Rande der Netzhaut.
Das Gehirn, das automatisch Worte formt,
die der Wandernde traumhaft fühlt, wieder-
holt tausendmal das Wort:
Straße zerhobelt das Lied! Straße zerhobelt
das Lied!
Jonny erschrickt: Alle Straßen, die mein
Fuß berührt, wandern in diese Stunde hinein,
weil nichts Lebendigeres sie erfüllt.
Jonny zählt die Fliesen des Bürgersteigs.
Sie sind schräg gelegt, sechs in jeder Reihe.
Wenn man Phantasie hat, kann man auf dem
Trottoir viele schöne geometrische Figuren
sehen. Schade, daß die Fliesen nicht bunt
sind und nicht aus Marmor.
Jonny klopft an Metas Fenster. Sie nimmt
ihre Samtmütze in die Hand und begleitet
Jonny. Sie wandern um einundzwanzig Uhr.
Die Normaluhr existiert oft, ist ein kraftvolles
Wesen. Hypnotisiert: einundzwanzig Uhr;
— einundzwanzig Uhr fünf.
Jonny sagt: „Vielleicht haben wir im nächsten
Jahr soviel Geld um uns eine Hütte am
Scharmützelsee zu bauen.“
„Wenn du lieben könntest, Jonny, wärest
du glücklich ohne Scharmützelsee.“
„Dummes kleines Mädchen!“
Meta schilt nicht. Sie ist auch nicht gekränkt.
„Warum sucht deine Seele in die Ferne?“
„Seit es meine Gewohnheit ist, über die Emp-
findungen meiner Menschen hinwegzuschrei-
ten, ist meine Seele heimatlos.“
Musik brandet auf die Brücke zu. Das
Mädchen ist begierig zu schauen. Jonny
und Meta setzen sich auf das steinerne
Geländer neben den Cupido.
Musik führt Demonstranten zur Brücke.
Dies sind Arbeiter und ihre Frauen. Ein
Gesicht wächst aus ihrer Gemeinschaft, ein
hochstirniges, strenges, würdiges.
Jünglinge, in hellen Kitteln, mit mähnigem
Haar, erstampfen im Taktschritt den Rausch
frohen Hochgefühls. Männer voll Ethik
tragen den Dank an den Führer zum De-
monstrationsplatz.
Jonny umfaßt alles mit einem neidischen
Gefühl.
Die Frauen haben Markttaschen mitgenom-
men, die Abendbrotpakete und Malzkaffee
in Thermosflaschen enthalten. Andere haben
Kind und Hund auf dem Arm. Der Führer
auf dem Demonstrationsplatz wartet auf den
Gruß und auf den Jubelstimmensturm einer
Völkerwanderung.
Ein altes Mütterchen tritt aus der Reihe,
um den Strumpf im zerrissenen Schuh zu-
rechtzurücken. Beim Nacheilen stolpert sie.
Jonny darf ihr helfen.
102
Rudolf Meissner
Jonny wandert um zwanzig- Uhr.
Die Nerven, die die lebenden Bilder der
Netzhaut an das Gehirn drahten, reagieren
nur noch auf das Bild:
Straße.
Jonny zeigt auf einen Laternen^fähl. „Ich
will einen Tag lang die Seele die^hlfLaternen-
pfahls sein. In den Büchern muß ich den
Weg erforschen, der meinen Geist zur Ver-
senkung führt in jeden Gegenstand, in jeden
Laternenpfahl. Das Erlebnis, etwas zu be-
deuten, eine Straße zu beleuchten, einen
scharfen Schatten zu verschenken an sieben-
zig Passanten, raube ich der Gaslaterne, die
tot ist und von dem Raub nichts weiß.“
Bäume und Rummelplätze verschwinden am
Rande der Netzhaut.
Das Gehirn, das automatisch Worte formt,
die der Wandernde traumhaft fühlt, wieder-
holt tausendmal das Wort:
Straße zerhobelt das Lied! Straße zerhobelt
das Lied!
Jonny erschrickt: Alle Straßen, die mein
Fuß berührt, wandern in diese Stunde hinein,
weil nichts Lebendigeres sie erfüllt.
Jonny zählt die Fliesen des Bürgersteigs.
Sie sind schräg gelegt, sechs in jeder Reihe.
Wenn man Phantasie hat, kann man auf dem
Trottoir viele schöne geometrische Figuren
sehen. Schade, daß die Fliesen nicht bunt
sind und nicht aus Marmor.
Jonny klopft an Metas Fenster. Sie nimmt
ihre Samtmütze in die Hand und begleitet
Jonny. Sie wandern um einundzwanzig Uhr.
Die Normaluhr existiert oft, ist ein kraftvolles
Wesen. Hypnotisiert: einundzwanzig Uhr;
— einundzwanzig Uhr fünf.
Jonny sagt: „Vielleicht haben wir im nächsten
Jahr soviel Geld um uns eine Hütte am
Scharmützelsee zu bauen.“
„Wenn du lieben könntest, Jonny, wärest
du glücklich ohne Scharmützelsee.“
„Dummes kleines Mädchen!“
Meta schilt nicht. Sie ist auch nicht gekränkt.
„Warum sucht deine Seele in die Ferne?“
„Seit es meine Gewohnheit ist, über die Emp-
findungen meiner Menschen hinwegzuschrei-
ten, ist meine Seele heimatlos.“
Musik brandet auf die Brücke zu. Das
Mädchen ist begierig zu schauen. Jonny
und Meta setzen sich auf das steinerne
Geländer neben den Cupido.
Musik führt Demonstranten zur Brücke.
Dies sind Arbeiter und ihre Frauen. Ein
Gesicht wächst aus ihrer Gemeinschaft, ein
hochstirniges, strenges, würdiges.
Jünglinge, in hellen Kitteln, mit mähnigem
Haar, erstampfen im Taktschritt den Rausch
frohen Hochgefühls. Männer voll Ethik
tragen den Dank an den Führer zum De-
monstrationsplatz.
Jonny umfaßt alles mit einem neidischen
Gefühl.
Die Frauen haben Markttaschen mitgenom-
men, die Abendbrotpakete und Malzkaffee
in Thermosflaschen enthalten. Andere haben
Kind und Hund auf dem Arm. Der Führer
auf dem Demonstrationsplatz wartet auf den
Gruß und auf den Jubelstimmensturm einer
Völkerwanderung.
Ein altes Mütterchen tritt aus der Reihe,
um den Strumpf im zerrissenen Schuh zu-
rechtzurücken. Beim Nacheilen stolpert sie.
Jonny darf ihr helfen.
102