Tiflis, die Weltstadt des Kaukasus
Herwarth Walden
Fünfzigtausend Menschen sitzen, stehen,
drängen sich im Volkspark von Tiflis. Auf
den hohen Bäumen neben der Bühne sitzen,
stehen, hängen Kinder. Vor der Bühne an
rotgedeckten Tischen die Jury der ersten
Volkschorolympiade der Republik Georgien.
32 Chöre aus allen Provinzen beteiligen sich.
Alle in ihrer Nationaltracht. Die Bergvölker
tragen ihre traditionellen Waffen. Der Ge-
sang im allgemeinen dreistimmig. Männer-
chöre und gemischte Chöre von 15 bis 60
Mitgliedern. Volkslieder. Voll eigner Melo-
dik und Rhythmik. Erinnerung an die Musik
von Arabern und Negern stellt sich ein. Den
größten Erfolg und die meisten Preise erhält
die Provinz Gurien. Ein gurischer Chor
tanzt außerdem einen Schwertertanz. Muß
zweimal wiederholt werden. Die Gurier sin-
gen Begleitungsfiguren aus zwei hohen Kehl-
lauten, die nirgends auf der Erde gesungen
werden. Sie sterben selbst bei der jungen
gurischen Genenation aus. Die Solisten,
zwei Greise, Bauern, jeder über 80 Jahre.
Carusoerfolg. Fast scheint es als ob das
Publikum die Bühne stürmen wird. Einige
Kinder fallen vom Baum. Signalpfeifen. Die
Miliz erscheint und macht Ordnung. Etwas
anders als in Berlin, wo der Polizeileutnant
das Licht löschen und weiteres Singen ver-
bieten läßt, bis die Begeisterten ihren teuer
bezahlten Platz wieder eingenommen haben.
Hier kostet die Kunst nur 25 Kopeken und
die Miliz hält den Enthusiasten einen päda-
gogisch philosophischen Vortrag über die
Unzweckmäßigkeit des Vordrängens. Sogar
mit Erfolg. Den gefallenen Kindern hilft sie
persönlich wieder auf die Bäume. Das Konzert,
gleichzeitig vom Radio aufgenommen, dauert
fast 6 Stunden. Die Tifliser sind für Kunst
und gelten als das kritischste Publikum der
Sowjet-Union. Deshalb legen die Künstler
großen Wert auf einen Erfolg in Tiflis. Trotz-
dem die Stadt hinter den hohen kaukasi-
schen Bergen liegt und die Republik Ge-
orgien in den weitesten europäischen Kreisen
nur ein Begriff ist. Und auch das kaum.
Der Zarismus hat das Land zu russifizieren
versucht und ihm auch einen anderen Namen,
Grusien, gegeben. Sonst weiß man noch,
daß Herr Kautsky sehr böse auf das Land
ist, weil die Georgier sich erlaubten, trotz
seiner Anerkennung die sozialdemokratische
Regierung abzuschaffen. Der Präsident der
Republik ist der alte Bolschewik Macha-
radse, der sich schon seit 1899 revolutionär
betätigt hat. Ein Mann von hohen geistigen
Gaben, von eisernem Willen, von echter
Menschlichkeit und einem berauschenden
persönlichen Charme. Die Georgier, Männer
und Frauen, sind selten schöne Menschen.
Lebhaft und zugleich zurückhaltend. Voll
Wissensfreude und voll Lebensfreude. Ein
neuer Glanz, der Stolz des siegreichen Pro-
letariats liegt über der Stadt. Außere und
innere Freiheit des Lebens und der Formen
und doch aus einer ursprünglichen Aesthetik
heraus gebunden. Ekstase der Gastfreund-
schaft. Einige Kilometer vor der Stadt am
Fluß Kura liegt ihr Stolz, das Hydro-Elektri-
kraftwerk (Sages), gewöhnlich Leninwerk
genannt. Es enthält vier Turbinen zu je
5000 PS, aus Deutschland bezogen. 2 Tur-
binen zu je 17000 PS werden in diesem
Jahr aufgestellt und sind bereits in Lenin-
Herwarth Walden
Fünfzigtausend Menschen sitzen, stehen,
drängen sich im Volkspark von Tiflis. Auf
den hohen Bäumen neben der Bühne sitzen,
stehen, hängen Kinder. Vor der Bühne an
rotgedeckten Tischen die Jury der ersten
Volkschorolympiade der Republik Georgien.
32 Chöre aus allen Provinzen beteiligen sich.
Alle in ihrer Nationaltracht. Die Bergvölker
tragen ihre traditionellen Waffen. Der Ge-
sang im allgemeinen dreistimmig. Männer-
chöre und gemischte Chöre von 15 bis 60
Mitgliedern. Volkslieder. Voll eigner Melo-
dik und Rhythmik. Erinnerung an die Musik
von Arabern und Negern stellt sich ein. Den
größten Erfolg und die meisten Preise erhält
die Provinz Gurien. Ein gurischer Chor
tanzt außerdem einen Schwertertanz. Muß
zweimal wiederholt werden. Die Gurier sin-
gen Begleitungsfiguren aus zwei hohen Kehl-
lauten, die nirgends auf der Erde gesungen
werden. Sie sterben selbst bei der jungen
gurischen Genenation aus. Die Solisten,
zwei Greise, Bauern, jeder über 80 Jahre.
Carusoerfolg. Fast scheint es als ob das
Publikum die Bühne stürmen wird. Einige
Kinder fallen vom Baum. Signalpfeifen. Die
Miliz erscheint und macht Ordnung. Etwas
anders als in Berlin, wo der Polizeileutnant
das Licht löschen und weiteres Singen ver-
bieten läßt, bis die Begeisterten ihren teuer
bezahlten Platz wieder eingenommen haben.
Hier kostet die Kunst nur 25 Kopeken und
die Miliz hält den Enthusiasten einen päda-
gogisch philosophischen Vortrag über die
Unzweckmäßigkeit des Vordrängens. Sogar
mit Erfolg. Den gefallenen Kindern hilft sie
persönlich wieder auf die Bäume. Das Konzert,
gleichzeitig vom Radio aufgenommen, dauert
fast 6 Stunden. Die Tifliser sind für Kunst
und gelten als das kritischste Publikum der
Sowjet-Union. Deshalb legen die Künstler
großen Wert auf einen Erfolg in Tiflis. Trotz-
dem die Stadt hinter den hohen kaukasi-
schen Bergen liegt und die Republik Ge-
orgien in den weitesten europäischen Kreisen
nur ein Begriff ist. Und auch das kaum.
Der Zarismus hat das Land zu russifizieren
versucht und ihm auch einen anderen Namen,
Grusien, gegeben. Sonst weiß man noch,
daß Herr Kautsky sehr böse auf das Land
ist, weil die Georgier sich erlaubten, trotz
seiner Anerkennung die sozialdemokratische
Regierung abzuschaffen. Der Präsident der
Republik ist der alte Bolschewik Macha-
radse, der sich schon seit 1899 revolutionär
betätigt hat. Ein Mann von hohen geistigen
Gaben, von eisernem Willen, von echter
Menschlichkeit und einem berauschenden
persönlichen Charme. Die Georgier, Männer
und Frauen, sind selten schöne Menschen.
Lebhaft und zugleich zurückhaltend. Voll
Wissensfreude und voll Lebensfreude. Ein
neuer Glanz, der Stolz des siegreichen Pro-
letariats liegt über der Stadt. Außere und
innere Freiheit des Lebens und der Formen
und doch aus einer ursprünglichen Aesthetik
heraus gebunden. Ekstase der Gastfreund-
schaft. Einige Kilometer vor der Stadt am
Fluß Kura liegt ihr Stolz, das Hydro-Elektri-
kraftwerk (Sages), gewöhnlich Leninwerk
genannt. Es enthält vier Turbinen zu je
5000 PS, aus Deutschland bezogen. 2 Tur-
binen zu je 17000 PS werden in diesem
Jahr aufgestellt und sind bereits in Lenin-