Gehirnabort
Herwarth Walden
Auf dem Tisch im Büro des Direktors eines
proletarischen Sanatoriums im Kaukasus liegt
plötzlich vor mir das neueste Heft 24 der
Münchner Medizinischen Wochenschrift. Ich
schlage nach dem Inhalt einen Artikel „Rus-
sische Experimente“ auf, geschrieben von
einem Doktor der Medizin, Bezirksarzt in
Lichtenfels. Nach einigen Zeilen glaubt man
an einen Sonnenstich des Lesers oder des
Verfassers. Dieser Doktor ist teils medzii-
nisch, teils sittlich über die Abschaffung der
Familie, die Anschaffung des Aborts und
die Verwahrlosung der Jugend und der Kinder
entrüstet. Diese drei Tendenzen entsprechen
„dem nomadischen Sinn der Tataren-Bolsche-
wisten". Die Familie ist nach der Ansicht
dieses Medizinmannes abgeschafft worden,
wie er das nennt, damit jeder Bolschewik
jeden Tag seine neuen sexuellen Begierden
durch eine schlichte Heirat befriedigen kann.
Das Entsittlichende sieht der Doktor darin,
daß die Anmeldung der Ehe nicht vor dem
Standesamt, sondern vor der Polizei, die
Abmeldung der Ehe nicht vor dem Gericht,
sondern gleichfalls vor der Polizei stattfindet.
Damit ist allerdings der sittlichen Mensch-
heit das Vergnügen genommen, sich in das
Sexualleben der anderen zu vertiefen. Es
ist ferner dadurch der romantische Ehebruch
verhindert, da ja jede gewünschte neue sexu-
elle Beziehung durch Ab- und Anmeldung
sich erledigen läßt. Der Doktor aus Deutsch-
land ist entrüstet. Nach ihm gibt es in
Deutschland überhaupt kein Sexualleben
oder höchstens beim Eintritt in die Ehe.
Der liebe Gott sorgt, gesetzlich geschützt,
für die lieben Kinderchen und dadurch für
die gottgewollte Familie und beruft die Ehe-
gatten etwas nach der goldenen Hochzeit
zu sich ins Paradies. Hieraus ergibt sich,
daß in Deutschland jeder unsittliche Ein-
griff in das sittliche Familienleben nebst
Kindererzeugung streng verfolgt wird. Den-
noch soll es in Deutschland unsittliche Men-
schen gegeben haben, die die Spuren ihrer
göttlichen Tätigkeit verbergen wollten. Das
soll sogar früher recht oft vorgekommen sein,
so daß man sich zu einer Art Statistik ent-
schloß, die zwar nicht Bände sprach, aber
Bände füllte.
Seit Erzeugung der deutschen Republik ist
es alles anders geworden. Die Aborte sind
sozusagen ausgestorben. Sonst könnte der
Bezirksarzt aus Lichtenfels nicht so entrüstet
über die tatarischen Bolschewisten sein, die
den Abort gesetzlich einführen. Das hat
nach Ansicht des Verfassers allerdings den
Vorteil, daß das Proletariat dadurch bald
gänzlich ausstirbt und der europäische Ka-
pitalismus gerettet ist, oder, wie er es be-
scheiden nennt, die europäische Intelligenz.
Wie er genau weiß, haben die Bolschewiki
die drei Millionen Intelligenter, die das rus-
sische Reich besaß, gesammelt und sie durch
die Tscheka erschießen lassen, wodurch rest-
los nur das Proletariat übrig blieb. Da man
Jura nicht ohne Intelligenz treiben kann,
blieb nichts übrig, als die ganze Jura ab-
zuschaffen, also auch den Ehebruch, also
auch die Familie, die Erzeugerin des Ehe-
bruchs, womit also wieder eine neue Art
Ordnung in der Unordnung hergestellt ist.
Die Folgen sind katastrophal, meldet der
Doktor. Ein russischer Bauer hat sich nach
15jähriger Ehe abmelden lassen, weil seine
Frau ihm nicht mehr intelligent genug war.
Das hat die Welt wenigstens in Deutschland
noch nicht gesehen. Dieser Zerfall des Fa-
milienlebens. Jedenfalls ist den Bolsche-
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Herwarth Walden
Auf dem Tisch im Büro des Direktors eines
proletarischen Sanatoriums im Kaukasus liegt
plötzlich vor mir das neueste Heft 24 der
Münchner Medizinischen Wochenschrift. Ich
schlage nach dem Inhalt einen Artikel „Rus-
sische Experimente“ auf, geschrieben von
einem Doktor der Medizin, Bezirksarzt in
Lichtenfels. Nach einigen Zeilen glaubt man
an einen Sonnenstich des Lesers oder des
Verfassers. Dieser Doktor ist teils medzii-
nisch, teils sittlich über die Abschaffung der
Familie, die Anschaffung des Aborts und
die Verwahrlosung der Jugend und der Kinder
entrüstet. Diese drei Tendenzen entsprechen
„dem nomadischen Sinn der Tataren-Bolsche-
wisten". Die Familie ist nach der Ansicht
dieses Medizinmannes abgeschafft worden,
wie er das nennt, damit jeder Bolschewik
jeden Tag seine neuen sexuellen Begierden
durch eine schlichte Heirat befriedigen kann.
Das Entsittlichende sieht der Doktor darin,
daß die Anmeldung der Ehe nicht vor dem
Standesamt, sondern vor der Polizei, die
Abmeldung der Ehe nicht vor dem Gericht,
sondern gleichfalls vor der Polizei stattfindet.
Damit ist allerdings der sittlichen Mensch-
heit das Vergnügen genommen, sich in das
Sexualleben der anderen zu vertiefen. Es
ist ferner dadurch der romantische Ehebruch
verhindert, da ja jede gewünschte neue sexu-
elle Beziehung durch Ab- und Anmeldung
sich erledigen läßt. Der Doktor aus Deutsch-
land ist entrüstet. Nach ihm gibt es in
Deutschland überhaupt kein Sexualleben
oder höchstens beim Eintritt in die Ehe.
Der liebe Gott sorgt, gesetzlich geschützt,
für die lieben Kinderchen und dadurch für
die gottgewollte Familie und beruft die Ehe-
gatten etwas nach der goldenen Hochzeit
zu sich ins Paradies. Hieraus ergibt sich,
daß in Deutschland jeder unsittliche Ein-
griff in das sittliche Familienleben nebst
Kindererzeugung streng verfolgt wird. Den-
noch soll es in Deutschland unsittliche Men-
schen gegeben haben, die die Spuren ihrer
göttlichen Tätigkeit verbergen wollten. Das
soll sogar früher recht oft vorgekommen sein,
so daß man sich zu einer Art Statistik ent-
schloß, die zwar nicht Bände sprach, aber
Bände füllte.
Seit Erzeugung der deutschen Republik ist
es alles anders geworden. Die Aborte sind
sozusagen ausgestorben. Sonst könnte der
Bezirksarzt aus Lichtenfels nicht so entrüstet
über die tatarischen Bolschewisten sein, die
den Abort gesetzlich einführen. Das hat
nach Ansicht des Verfassers allerdings den
Vorteil, daß das Proletariat dadurch bald
gänzlich ausstirbt und der europäische Ka-
pitalismus gerettet ist, oder, wie er es be-
scheiden nennt, die europäische Intelligenz.
Wie er genau weiß, haben die Bolschewiki
die drei Millionen Intelligenter, die das rus-
sische Reich besaß, gesammelt und sie durch
die Tscheka erschießen lassen, wodurch rest-
los nur das Proletariat übrig blieb. Da man
Jura nicht ohne Intelligenz treiben kann,
blieb nichts übrig, als die ganze Jura ab-
zuschaffen, also auch den Ehebruch, also
auch die Familie, die Erzeugerin des Ehe-
bruchs, womit also wieder eine neue Art
Ordnung in der Unordnung hergestellt ist.
Die Folgen sind katastrophal, meldet der
Doktor. Ein russischer Bauer hat sich nach
15jähriger Ehe abmelden lassen, weil seine
Frau ihm nicht mehr intelligent genug war.
Das hat die Welt wenigstens in Deutschland
noch nicht gesehen. Dieser Zerfall des Fa-
milienlebens. Jedenfalls ist den Bolsche-
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