Das bulgarische Theater
Nikolaj Fol
Sechzig- — siebenzig- Jahre zurück. Zeit der
Türkenherrschaft. Die ottomanische Macht
fühlte ihr Ende voraus. Das National-
bewußtsein des Volkes erstarkte. Die Volks-
erwecker entwickelten fieberhafte Tätigkeit:
revolutionär und aufklärend oder präziser:
revolutionär-aufklärend, da die Aufklärung
die revolutionäre Befreiung zum Ziel hatte.
In jener gärenden Epoche muß man den
Keim des bulgarischen Theaters suchen.
Primitiv und naiv. Trotzdem hundert-
prozentiges Theater, ins Leben gerufen
durch die Not der Zeit. Aktuell. Wirkungs-
voll. Theater, das weder höher, noch
niedriger als das geistige Niveau des
Publikums stand. Theater, das anfeuert,
die Massen hinreißt, die Revolution prokla-
miert, Repertoire: Improvisationen, naive
original-bulgarische Dramen, für die revo-
lutionären Ziele passende, umgearbeitete
Stücke Schauspieler: Die Lehrer, die
Popen, die Intelligenz. Publikum: Von
fünfzehnjährigen Knaben bis zu achtzig-
jährigen Greisen, die applaudieren, Hurra
schreien, mit den Schauspielern zusammen
patriotische Lieder singen, während der
Handlung auf die Bühne springen und
revolutionäre Reden halten.
Theater — Tribüne.
Nach der Befreiung jedoch hatte das Theater
seinen Einfluß auf die Volksmasse verloren,
durch die Bestrebung, „reine Kunst" zu
werden. Die ersten professionellen Mimen
tappen vollständig im Dunkel über die
ästhetischen und sozialen Richtungen, die
das Theater einzuschlagen hätte. Die Ideen,
die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
die Welt durchwogten, waren fremd für
Bulgarien, welches noch vom Wein der
Freiheit berauscht war. Etwas später,
gegen 1900, beim Auftauchen begabter, in
Rußland geschulter Schauspieler (Manja
Ikonomova, Rosa Popowa, Matej Ikonomoff)
und der Normalisierung des öffentlichen
Lebens, machten sich wandernde Schauspiel-
truppen mit höheren szenischen Anforde-
rungen und seriöserem Repertoire auf den
Weg: Shakespeare, Schiller, Ibsen, Gorki,
Tolstoi. Diese Truppen entfalteten vor
allem bildende Tätigkeit.
Das Theater wurde Schule für Erwachsene.
Die Regierung hatte bald begriffen, daß sich
das Theater als Bildungsmittel für das Volk
ausnutzen ließe, begründete das Staats-
theater, erbaute das große moderne Theater-
gebäude, bewilligte jährlich reichliche Zu-
schüsse und zog die besten Schauspieler der
privaten Truppen heran. — Das ist die
dritte Phase des bulgarischen Theaters, die
heutige: Im Ausland (Rußland und Deutsch-
land) geschulte, hochbegabte Schauspieler
(Budewska, Sarafoff, Kirkoff, Ognjanoff).
Ausländische Regisseure. Bulgarische Bühnen-
werke. Moderne Bühne (eine der besten
Europas: Versenk- und Seitenschiebebühne).
Aber.
Auf diese Weise Brennpunkt der Theater-
kunst Bulgariens geworden, schlug das
Staatstheater leider bald eine Linie des
Konservatismus ein, hinsichtlich des Reper-
toires wie auch der Kunstrichtungen. Den
aus Rußland vor dreißig Jahren über-
40
Nikolaj Fol
Sechzig- — siebenzig- Jahre zurück. Zeit der
Türkenherrschaft. Die ottomanische Macht
fühlte ihr Ende voraus. Das National-
bewußtsein des Volkes erstarkte. Die Volks-
erwecker entwickelten fieberhafte Tätigkeit:
revolutionär und aufklärend oder präziser:
revolutionär-aufklärend, da die Aufklärung
die revolutionäre Befreiung zum Ziel hatte.
In jener gärenden Epoche muß man den
Keim des bulgarischen Theaters suchen.
Primitiv und naiv. Trotzdem hundert-
prozentiges Theater, ins Leben gerufen
durch die Not der Zeit. Aktuell. Wirkungs-
voll. Theater, das weder höher, noch
niedriger als das geistige Niveau des
Publikums stand. Theater, das anfeuert,
die Massen hinreißt, die Revolution prokla-
miert, Repertoire: Improvisationen, naive
original-bulgarische Dramen, für die revo-
lutionären Ziele passende, umgearbeitete
Stücke Schauspieler: Die Lehrer, die
Popen, die Intelligenz. Publikum: Von
fünfzehnjährigen Knaben bis zu achtzig-
jährigen Greisen, die applaudieren, Hurra
schreien, mit den Schauspielern zusammen
patriotische Lieder singen, während der
Handlung auf die Bühne springen und
revolutionäre Reden halten.
Theater — Tribüne.
Nach der Befreiung jedoch hatte das Theater
seinen Einfluß auf die Volksmasse verloren,
durch die Bestrebung, „reine Kunst" zu
werden. Die ersten professionellen Mimen
tappen vollständig im Dunkel über die
ästhetischen und sozialen Richtungen, die
das Theater einzuschlagen hätte. Die Ideen,
die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
die Welt durchwogten, waren fremd für
Bulgarien, welches noch vom Wein der
Freiheit berauscht war. Etwas später,
gegen 1900, beim Auftauchen begabter, in
Rußland geschulter Schauspieler (Manja
Ikonomova, Rosa Popowa, Matej Ikonomoff)
und der Normalisierung des öffentlichen
Lebens, machten sich wandernde Schauspiel-
truppen mit höheren szenischen Anforde-
rungen und seriöserem Repertoire auf den
Weg: Shakespeare, Schiller, Ibsen, Gorki,
Tolstoi. Diese Truppen entfalteten vor
allem bildende Tätigkeit.
Das Theater wurde Schule für Erwachsene.
Die Regierung hatte bald begriffen, daß sich
das Theater als Bildungsmittel für das Volk
ausnutzen ließe, begründete das Staats-
theater, erbaute das große moderne Theater-
gebäude, bewilligte jährlich reichliche Zu-
schüsse und zog die besten Schauspieler der
privaten Truppen heran. — Das ist die
dritte Phase des bulgarischen Theaters, die
heutige: Im Ausland (Rußland und Deutsch-
land) geschulte, hochbegabte Schauspieler
(Budewska, Sarafoff, Kirkoff, Ognjanoff).
Ausländische Regisseure. Bulgarische Bühnen-
werke. Moderne Bühne (eine der besten
Europas: Versenk- und Seitenschiebebühne).
Aber.
Auf diese Weise Brennpunkt der Theater-
kunst Bulgariens geworden, schlug das
Staatstheater leider bald eine Linie des
Konservatismus ein, hinsichtlich des Reper-
toires wie auch der Kunstrichtungen. Den
aus Rußland vor dreißig Jahren über-
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