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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 20.1929-1930

DOI issue:
Heft 8
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Meissner, Rudolf: Mittags-Synkope
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https://doi.org/10.11588/diglit.47222#0128

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Mittags-Synkope
Rudolf Meissner
Gedankenstriche sind.
Dann entstehen Bäume und Steine, Chaussee-
gräben, ein blauer Gartenzaun.
Und es sind noch mehr Gedankenstriche.
Ich komme aus dem Dom des Morgens, in
dem ich singen konnte, und wandre dem
sanften Abend zu. Aber der Mittag ist nur
ein horizontales Sattsein, das den Wald in
seine Fläche saugt und die Dorfkirchtürme.
Ich habe das elastische Schreiten der Frühe
verlernt. Mein Gewicht konzentriert sich in
den Füßen und in den Fingerspitzen.
Am Rande der Ebene formulieren Baum-
gruppen Buchstaben, die mich belügen. Als
Kind besaß ich Baumgruppen auf kleinen
hölzernen Sockeln. Die konnte ich hinstellen
wo ich wollte. Und wenn der Vernichtungs-
trieb mich zwang, eine davon zu verbrennen,
kam ich nicht ins Gefängnis.
Mücken sind Seiltänzer auf dem Faden eines
Spinngewebes. Auch dies sind Täuschungen.
Ich werde heute Nacht auf seideknisternden
Laken schlafen, weinschwer. Dame Tora er-
wartet mich. Ich bin der luxuriöse Vagabund
und mein Hemd ist kaum zerrissen. Dame
Toras Tanzgestalt schwebt streichelnd in
meine Nerven. Und vermag nicht, den
Schmerz zu lindern.
Ich leide am Vorhandensein des Mittags.
Mittag ist wie Mitternacht: Traumsein. Um
Mitternacht verlösche ich um dem Traumsein
Entfaltung zu gewähren im Raum meiner
Existenz. Traum stürzt aus allen Himmeln
in diesen Raum.
Am Mittag verlösche ich nicht! Meine Selbst-

behauptung gegen den Mittag drängt, daß
ich ein Tun ergreife.
Ich begegne dem Schweinehirten und frage
ihn, ob ich ihm helfen darf. „Waren Sie
schon einmal in Paris, Herr Schweinehirt?“
— „Haben Sie schon einmal eine Oper
gehört?“ — „Zürnen Sie nicht, junger Hirt,
daß ich dies frage. Sie würden das nicht
tun. Denn Sie sind weise genug. Leiden
Sie etwa am Vorhandensein des Mittags?
Sie liegen wortlos da und zufrieden, eine
Butterblume in den Zähnen. Sie haben
immer auf die Verzückung verzichtet um sich
den Schmerz zu ersparen. Sie sind jetzt
versunken in die horizontale Sattheit des
Mittags. Und sind Ihren eigenen Traum-
bildern nicht im Wege. Es ist vernünftig,
damit einverstanden zu sein, daß die
Träume des Wachens unorganisiert bleiben.
Es ist bequem. Nehmen Sie noch ein Stück
Schokolade, junger Hirt? Verzeihen Sie,
daß ich es Ihnen zumute. Schokolade ist
Gift für Sie. Die Herstellung hat die
Schokolade mit Maschinerie behaftet. Die
Maschinerie riss die Erde aus der Zeit und
gebar eine neue abstrakte Dimension für
den morgigen Tag der Erde. Mein Vaga-
bundentum ist bereits benagt von Schokolade
und künstlichem Licht. Aber ich fühle, daß
es noch nicht tot ist: ich streite noch mit
dem Vorhandensein des Mittags.“
Der Hirt legt sich weiter weg von mir. Ich
glaube, meine Rede stürzt auf ihn wie Wahn-
sinnsstrom. Obwohl unsere Hände sich be-
rührten, als wir Schokolade aßen, und unsere
Sinne einander wahrnahmen, ist der Hirt
zweitausend Jahre und ich bin achttausend
Jahre nach Adam geboren. Mein Wahnsinn
verhält sich zu dem Wahnsinn des Knaben
wie vier zu eins. Und in diesem Verhältnis
ist es ihm leichter, seinen Herzschlag mit dem
Herzschlag der Erde in Rhythmus zu bringen.

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