Variation über ein Thema der Wesendonck
Walter Seidl
„Vieles im menschlichen Leben ist dem
Vergessen geweiht. Weniges nur ist un-
vergeßlich, aber nach diesem „Wenigen“
bestimmt sich zuletzt der Wert des Da-
seins überhaupt.“’
Ein junges Mädchen, das die Violine
spielte — so, daß es bei Gounods Ave
Maria aus dem Takt geriet — vor „Tschi-
nesen“ Furcht hatte und bei kurzgeschnit-
tenem Haar rückwärts einen dicken Schopf.
Ein entzückend unwirkliches Wesen, hin-
dämmernd und sanft. Und aus sehr, sehr
guter Familie.
Mit siebzehn Jahren machte es guten Be-
kannten gegenüber kein Hehl daraus, daß
das Los eines Mädchens, das seinen guten
Eltern keinen Kummer bereiten möchte,
hart und langweilig sei. Und daß es ganz
allein in die große Stadt möchte . . . Die
Medizin erlernen.
Seine Eltern, die es sehr liebten, aber am
Lande wohnten, fanden es — einstweilen
wenigstens — hierzu noch zu jung und
ließen es lediglich in einer Provinzstadt,
bei der Tante gut aufgehoben, Sprachen
studieren.
Mit zwanzig Jahren fand es sich endlich
am Ziel seiner Wünsche. In der Haupt-
stadt nämlich. Und im Seziersaal. Wo
es erbrach. Aber das ging vorüber.
Unter seinen Kollegen waren viele Tschi-
nesen. Und selbst jene, die das nicht
waren, bekamen, sobald sie sich aus-
gehungert dem reizend blühenden Mäd-
chen gegenüber fanden, den gewissen
geschlitzten Blick, der es erschreckte und
abhielt . . . Nun ja, was weiß man schließ-
lich auch Bestimmtes von diesen düsteren
männlichen Existenzen! Vielleicht ist der
da ... na, wie heißt denn das gleich?
— — Oder aber . . . Ach, und was es da
noch alles an scheußlichen Gefahren für
ein unbescholtenes Mädchen gibt!
Doch anderseits nur golden bebrillte
Greise, Bücher, Leichen?! Für einen
süßen Fratzen, dem es möglich war, bei
Gounods Ave Maria aus dem Takt zu
geraten! Und auf dessen Nacken ein
dicker Haarschopf lastete! Wozu hatte es
(das Mädchen) ihn denn dann eigentlich?
Den Haarschopf! —
Ein Tag kam, da ging ER vorüber. Also,
ein Ueber-Tschinese! Und unter Um-
ständen ihr Schicksal . . .
Es aber spürte ihn nicht . . .
Statt dessen vermählte es sich und bekam
Kinder. Von einem durchaus vertrauen-
erweckenden Europäer.
Die Kinder hatten sonderbarerweise ge-
schlitzte Augen.
Schließlich, mit vierundsechzig Jahren auf
dem Totenbette, dachte es plötzlich laut
vor sich hin: „Weniges Unvergeß-
liche -!“
Die ergriffen um es herumversammelte
Familie glaubte es zu verstehen und
fragte beflissen, ob es vielleicht ein Glas
Wasser wolle — ? —
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Walter Seidl
„Vieles im menschlichen Leben ist dem
Vergessen geweiht. Weniges nur ist un-
vergeßlich, aber nach diesem „Wenigen“
bestimmt sich zuletzt der Wert des Da-
seins überhaupt.“’
Ein junges Mädchen, das die Violine
spielte — so, daß es bei Gounods Ave
Maria aus dem Takt geriet — vor „Tschi-
nesen“ Furcht hatte und bei kurzgeschnit-
tenem Haar rückwärts einen dicken Schopf.
Ein entzückend unwirkliches Wesen, hin-
dämmernd und sanft. Und aus sehr, sehr
guter Familie.
Mit siebzehn Jahren machte es guten Be-
kannten gegenüber kein Hehl daraus, daß
das Los eines Mädchens, das seinen guten
Eltern keinen Kummer bereiten möchte,
hart und langweilig sei. Und daß es ganz
allein in die große Stadt möchte . . . Die
Medizin erlernen.
Seine Eltern, die es sehr liebten, aber am
Lande wohnten, fanden es — einstweilen
wenigstens — hierzu noch zu jung und
ließen es lediglich in einer Provinzstadt,
bei der Tante gut aufgehoben, Sprachen
studieren.
Mit zwanzig Jahren fand es sich endlich
am Ziel seiner Wünsche. In der Haupt-
stadt nämlich. Und im Seziersaal. Wo
es erbrach. Aber das ging vorüber.
Unter seinen Kollegen waren viele Tschi-
nesen. Und selbst jene, die das nicht
waren, bekamen, sobald sie sich aus-
gehungert dem reizend blühenden Mäd-
chen gegenüber fanden, den gewissen
geschlitzten Blick, der es erschreckte und
abhielt . . . Nun ja, was weiß man schließ-
lich auch Bestimmtes von diesen düsteren
männlichen Existenzen! Vielleicht ist der
da ... na, wie heißt denn das gleich?
— — Oder aber . . . Ach, und was es da
noch alles an scheußlichen Gefahren für
ein unbescholtenes Mädchen gibt!
Doch anderseits nur golden bebrillte
Greise, Bücher, Leichen?! Für einen
süßen Fratzen, dem es möglich war, bei
Gounods Ave Maria aus dem Takt zu
geraten! Und auf dessen Nacken ein
dicker Haarschopf lastete! Wozu hatte es
(das Mädchen) ihn denn dann eigentlich?
Den Haarschopf! —
Ein Tag kam, da ging ER vorüber. Also,
ein Ueber-Tschinese! Und unter Um-
ständen ihr Schicksal . . .
Es aber spürte ihn nicht . . .
Statt dessen vermählte es sich und bekam
Kinder. Von einem durchaus vertrauen-
erweckenden Europäer.
Die Kinder hatten sonderbarerweise ge-
schlitzte Augen.
Schließlich, mit vierundsechzig Jahren auf
dem Totenbette, dachte es plötzlich laut
vor sich hin: „Weniges Unvergeß-
liche -!“
Die ergriffen um es herumversammelte
Familie glaubte es zu verstehen und
fragte beflissen, ob es vielleicht ein Glas
Wasser wolle — ? —
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