Das Land am Ararat
Herwarth Walden
Wenn die Wolken an der Spitze des Berges
Ararat sich verziehen, sieht man noch immer
deutlich Noah mit seiner Arche, erzählen
alte armenische Bauern. Aber die Wolken
verziehen sich nicht und der Ararat ist die
einzige Erbschaft, die die armenische sozia-
listische Sowjet-Republik nach Krieg und
Bürgerkriegen machte. Und auch der Berg
gehört teilweise der Türkei. Der Ararat ist
im Wappen Armeniens, was einen so-
genannten politischen Schritt hervorrief. Die
Türkei, die das halbe Armenien erhalten
hatte, sah in dem Wappenbild einen Eingriff
in ihr gottgewolltes Eigentum. Worauf
der Volkskommissar Tschitscherin Einspruch
gegen den Halbmond der Türkei erhob,
auf den die Sowjet-Union gleichfalls Eigen-
tumsrechte in Anspruch nahm. Der Bilder-
sturm blieb diesmal ohne kriegerische Folgen.
Nun baut Armenien seit wenigen Jahren das
Land wieder auf, soweit es Bundesstaat der
Sowjet-Union geblieben ist. Wenn bisher
die Ameisen als Sinnbild des Fleißes ge-
golten haben, so könnte man an ihre Stelle
jetzt die Armenier setzen. Wohin man
blickt, wird gebaut. In afrikanischem Staub und
in afrikanischer Hitze. Und trotzdem blickt
man überall noch auf Ruinen. Hier müssen
wahre Zerstörungsorgien gefeiert sein. Die
Hauptstadt Eriwan, mit 62000 Einwohnern,
wird nach einem neuen Städteplan aufgebaut.
Die Industrie, die wissenschaftlichen Institute,
Theater und Museen, Wohnhäuser, liegen in
je einem Stadtviertel zusammen. Boulevards
und Gartenanlagen ziehen sich durch die
ganze Stadt. Sie wird mit einem Waldgürtel
umgeben, der die staubbringenden Berg-
winde abhalten soll. Die Hauptstraßen
münden auf einem imposanten kreisförmigen
Platz. In seiner Mitte, zwischen Bäumen,
das Denkmal Lenins. Im niederzureißenden
Teil der Stadt der Bazar. Große Reihen
verfallener Holzbuden. Dort treiben Türken,
Perser und andere Nationalitäten „Privat-
handel“. Daneben die letzte Moschee. Zwei
Bauern verschlafen in ihrer Kühle die Hitze.
Trotzdem steht ein einsames Paar Schuhe
bereit, falls doch ein Gläubiger den
heiligen Boden betreten will. Der Park
und die Klostergebäude sind nationalisiert
und dienen dem Proletariat als Erholungs-
orte. Unweit des Parks das neuerbaute
Elektrizitätswerk Rykow. Betrieb durch
vier Turbinen mit 8000 PS, von denen schon
zwei aus Leningrad stammen. Das ganze
Werk wird von zwei Arbeitern bedient. Es
ist das billigste der Sowjet-Union. Eine
Kilowattstunde kostet 27< Kopeken. Zurück
zum Gewerkschaftspark. Hier standen vor
wenigen Jahren noch Epidemiebaracken.
Durch die Tatkraft des Tropeninstituts von
Eriwan sind die Epidemien fast völlig aus-
gerottet. Jetzt spielt im Gewerkschaftspark
abends ein Symphonieorchester von 40 bis
50 Mann, das aus den Hochschülern des
armenischen Konservatoriums gebildet ist.
Eriwan hat eine eigene Kinofabrik und
eigenen Staatsverlag (Gosisdat). Er hat in
zwei Jahren 2000 Bücher verlegt, darunter
ein Buch zu Ehren des hundertjährigen
Todestages von Beethoven mit Illustrationen
und das Kommunistische Manifest in armeni-
scher Sprache. Hier werden auch Bücher
für die Kurden verlegt, ein Nomadenvolk,
das keine Schrift besaß und für die man
das lateinische Alphabet mit einigen Er-
weiterungszeichen in Gebrauch genommen
hat. In den letzten beiden Jahren wurden
vom Staatsverlag verkauft: 494 000 Lehr-
bücher, 68 000 Kinderbücher, 119 000 poli-
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Herwarth Walden
Wenn die Wolken an der Spitze des Berges
Ararat sich verziehen, sieht man noch immer
deutlich Noah mit seiner Arche, erzählen
alte armenische Bauern. Aber die Wolken
verziehen sich nicht und der Ararat ist die
einzige Erbschaft, die die armenische sozia-
listische Sowjet-Republik nach Krieg und
Bürgerkriegen machte. Und auch der Berg
gehört teilweise der Türkei. Der Ararat ist
im Wappen Armeniens, was einen so-
genannten politischen Schritt hervorrief. Die
Türkei, die das halbe Armenien erhalten
hatte, sah in dem Wappenbild einen Eingriff
in ihr gottgewolltes Eigentum. Worauf
der Volkskommissar Tschitscherin Einspruch
gegen den Halbmond der Türkei erhob,
auf den die Sowjet-Union gleichfalls Eigen-
tumsrechte in Anspruch nahm. Der Bilder-
sturm blieb diesmal ohne kriegerische Folgen.
Nun baut Armenien seit wenigen Jahren das
Land wieder auf, soweit es Bundesstaat der
Sowjet-Union geblieben ist. Wenn bisher
die Ameisen als Sinnbild des Fleißes ge-
golten haben, so könnte man an ihre Stelle
jetzt die Armenier setzen. Wohin man
blickt, wird gebaut. In afrikanischem Staub und
in afrikanischer Hitze. Und trotzdem blickt
man überall noch auf Ruinen. Hier müssen
wahre Zerstörungsorgien gefeiert sein. Die
Hauptstadt Eriwan, mit 62000 Einwohnern,
wird nach einem neuen Städteplan aufgebaut.
Die Industrie, die wissenschaftlichen Institute,
Theater und Museen, Wohnhäuser, liegen in
je einem Stadtviertel zusammen. Boulevards
und Gartenanlagen ziehen sich durch die
ganze Stadt. Sie wird mit einem Waldgürtel
umgeben, der die staubbringenden Berg-
winde abhalten soll. Die Hauptstraßen
münden auf einem imposanten kreisförmigen
Platz. In seiner Mitte, zwischen Bäumen,
das Denkmal Lenins. Im niederzureißenden
Teil der Stadt der Bazar. Große Reihen
verfallener Holzbuden. Dort treiben Türken,
Perser und andere Nationalitäten „Privat-
handel“. Daneben die letzte Moschee. Zwei
Bauern verschlafen in ihrer Kühle die Hitze.
Trotzdem steht ein einsames Paar Schuhe
bereit, falls doch ein Gläubiger den
heiligen Boden betreten will. Der Park
und die Klostergebäude sind nationalisiert
und dienen dem Proletariat als Erholungs-
orte. Unweit des Parks das neuerbaute
Elektrizitätswerk Rykow. Betrieb durch
vier Turbinen mit 8000 PS, von denen schon
zwei aus Leningrad stammen. Das ganze
Werk wird von zwei Arbeitern bedient. Es
ist das billigste der Sowjet-Union. Eine
Kilowattstunde kostet 27< Kopeken. Zurück
zum Gewerkschaftspark. Hier standen vor
wenigen Jahren noch Epidemiebaracken.
Durch die Tatkraft des Tropeninstituts von
Eriwan sind die Epidemien fast völlig aus-
gerottet. Jetzt spielt im Gewerkschaftspark
abends ein Symphonieorchester von 40 bis
50 Mann, das aus den Hochschülern des
armenischen Konservatoriums gebildet ist.
Eriwan hat eine eigene Kinofabrik und
eigenen Staatsverlag (Gosisdat). Er hat in
zwei Jahren 2000 Bücher verlegt, darunter
ein Buch zu Ehren des hundertjährigen
Todestages von Beethoven mit Illustrationen
und das Kommunistische Manifest in armeni-
scher Sprache. Hier werden auch Bücher
für die Kurden verlegt, ein Nomadenvolk,
das keine Schrift besaß und für die man
das lateinische Alphabet mit einigen Er-
weiterungszeichen in Gebrauch genommen
hat. In den letzten beiden Jahren wurden
vom Staatsverlag verkauft: 494 000 Lehr-
bücher, 68 000 Kinderbücher, 119 000 poli-
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