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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 20.1929-1930

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Heft 5/6 (Sonderheft Sowejtunion)
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Charkow
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Inguschetien
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https://doi.org/10.11588/diglit.47222#0095

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peken, ein Pfund Rindfleisch 22 Kopeken.
Ein Huhn je nach Größe 1 Rubel 20 Ko-
peken bis 1 Rubel 50 Kopeken. 100 Gramm
Tee 85 Kopeken. In den Speisesälen, die
bei jeder Fabrik vorhanden sind, kostet ein
Mittagessen für Arbeiter, Angestellte und
deren Familienmitglieder 35 Kopeken. Es
besteht aus einer Suppe von Fleisch und
Gemüsen, einem Fleischgang und Brot
nach Belieben. An einem offenen Büffet
werden kalte Vorspeisen, Süßigkeiten und
Getränke ohne Alkohol zu den geringsten
Preisen verkauft. Als Beispiel: eine Portion
gutes Vanille-Eis kostet 5 Kopeken. — Am
frühen Nachmittag beleben sich die Straßen.
Spätestens um halb vier Uhr ist überall die
Tagesarbeit eingestellt. Die Werktätigen,
das heißt hier fast die ganze Bevölkerung,
begeben sich nach und nach in die Sommer-
Klubs. Jede Gewerkschaft, jede Fabrik,
jede Organisation von Angestellten und
behördlichen Arbeitern verfügt über einen
Winter-Klub in eigenen Gebäuden und über
einen Sommer-Klub in Gärten. Für jede

Art von Ansprüchen ist hier gesorgt. Man
geht in das Theater, in das Kino oder in
das Konzert seines Klubs. Man treibt ver-
schiedenen Sport zu Lande und zu Wasser.
Man spielt Schach oder Billard. Man liest
Zeitungen, Zeitschriften aus eigener Biblio-
thek. Man ißt, trinkt, plaudert, oder geht
spazieren unter sagenhaft alten Bäumen und
im Leninlicht, der Volksname für Elektri-
fizierung bis in das kleinste Dorf der Sowjet-
Union. Im großen Gewerkschaftsgarten von
Charkow, an dem 20 Klubs beteiligt sind,
treffen sich täglich etwa 1500, Sonntags
30 bis 40 Tausend Menschen. Ein Sowjet-
Motto heißt: „Wer sich nicht zu erholen ver-
steht, versteht nicht zu arbeiten.“ Dieses
Wort wird in dem arbeitsamen und leben-
frohen Charkow besonders beherzigt. Von
einer Menschheit, die sich aus freiem
Gemeinschaftswillen eine freie Erde für
das Glück der Einzelnen und Aller ge-
schaffen hat und in solchem Sinne sinnvoll
weiter schafft und arbeitet.


Inguschetien
Herwarth Walden
Europa nebst seinem Völkerbunde können oder
wollen nicht das Problem lösen, nationale
Minderheiten der einzelnen Länder anständig
zu behandeln und normal leben zu lassen.
Gerade die Länder, die angeblich ein ganz
besonderes Nationalbewußtsein besitzen, können
dessen Existenz bei anderen Völkern absolut
nicht vertragen oder anerkennen und treiben
es der Konkurrenz durch körperliche und kul-
turelle Vernichtung aus. In Wirklichkeit ist
diese außergewöhnliche Nationalsucht weiter

nichts als gewöhnliche Besitzsucht. Traurig
genug, daß man noch im 20. Jahrhundert sagen
muß, daß Totschlag und Ausbeutung keine Be-
weise für nationale Überlegenheit sind. Im
zaristischen Rußland wurden etwa 200 Natio-
nalitäten „russifiziert“. Also totgeschlagen,
ausgeplündert und auf die denkbar niedrigste
Stufe der Zivilisation zurückgedrängt oder auf
ihr gehalten. Dagegen war die Sklaverei des
klassischen Altertums eine Wohltätigkeitsanstalt.
Durch die proletarische Revolution 1917 wurden
alle Nationen des ehemaligen Rußlands frei.
Die meisten von ihnen vereinigten sich zu
einem Bund sozialistischer Sowjet-Republiken
und es entstanden einige 30 Staaten mit Selbst-

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