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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 20.1929-1930

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Heft 1
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Staedler, Erich: Optisches Unvermögen
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https://doi.org/10.11588/diglit.47222#0020

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Optisches Unvermögen

E. Staedler
Kunst will empfunden, nicht verstanden sein.
Der empfindungslose ist daher zugleich der
amusische Mensch.
Auge und Ohr sind die Sinne, die uns
Kunst empfinden lassen. Kunst fürs Ohr
nennen wir Musik; Kunst fürs Auge sind
uns Malerei und Plastik. Aber die Nuancen
des Empfindungs vermögens bewegen
sich zwischen weit auseinanderliegenden
Grenzen.
Es gibt Menschen, die das absolute Ton-
gedächtnis haben. Sie nennen wir mit
Recht die Hochmusikalischen unter uns.
Ihr Gegenpol sind die Unmusikalischen, die
auch die einfachste Melodie nicht behalten
können. Jene sind selten, diese wesentlich
häufiger.
Aber, und das ist Menschenart: der Un-
musikalische will oft genug ankämpfen
gegen sein akustisches Unvermögen. Er
sucht dann gegen seinen Empfindungsmangel
eine Hilfe beim wohlvertrauten Verstände.
Kennt er daher zu einer Melodie einen Text
und behält er den, so gelingt es ihm meistens,
mit Hilfe des Textgedächtnisses die
Melodie zu behalten und sie leidlich ebenso
richtig wiederzugeben, wie der unmittelbar
Musikempfindende, d. h. der Musikalische.
Das alles sind bekannte Dinge.
Unbekannt ist nur, daß neben dem akusti-
schen Unvermögen zur Kunsiempfindung
ein ihm genau entsprechendes optisches
Unvermögen besteht. Und erst recht
unbekannt ist, daß die Zahl der Optisch-
Unvermögenden enorm viel größer ist, als
die der Unmusikalischen. Die Sprache hat

noch nicht einmal ein Wort zur Bezeichnung
des Optisch-Unvermögenden geschaffen, das
dem Begriffe des Unmusikalischen ent-
spräche.
Auch die Optisch-Unvermögenden kämpfen
gegen ihren Mangel an Kunstempfindung
unbewußt an; und ebenso unbewußt be-
dienen sie sich dabei - genau wie der
Unmusikalische, dieser aber bewußterweise
— der Ver stand es hilfe. Daß der ganze
Vorgang im Unbewußten verbleibt, erklärt
sich daraus, daß eben die Mehrzahl aller
Menschen optisch-unvermögend ist. Was
die Mehrzahl angeht, entzieht sich überall
und immer der Beobachtung und Kontrolle.
Die Verstandesstütze des Optisch-Unvermö-
genden hat ihre ganz bestimmte Signatur:
es ist das Verlangen, unter einem Bilde,
einer Plastik „sich etwas vorstellen
zu können“. Der Optisch-Unvermögende
sieht zwar auf der bemalten Leinwand die
Farbenflecke und ihre Formen. Aber ihre
Harmonie geht ihm nur ein, wenn er diese
Farben aufgetragen sieht an den wohl-
vertrauten Formgebilden seiner praktischen
Umgebungswelt. Die schlichte Farben-
harmonie einer quergefeilten Fläche, oben
blau, unten giün, empfindet er erst, wenn
die blaue Hälfte mit Wolken bemalt ist;
dann versteht er: das ist Himmel, und wenn
die grüne Fläche mit Sträuchen bemalt ist,
dann versteht er: das ist eine Wiese. Und
was er nun endlich empfindet, ist vielleicht
die Vorstellung des Landschaftsfriedens, aber
nicht die Harmonie der Farben. Verläuft
dann noch zwischen Blau und Grün eine
Reihe roter Flecke, so empfindet er den

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