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Vereinigung zur Erhaltung Deutscher Burgen [Hrsg.]
Der Burgwart: Mitteilungsbl. d. Deutschen Burgenvereinigung e.V. zum Schutze Historischer Wehrbauten, Schlösser und Wohnbauten — 13.1912

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Nr. 1
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Justus: Etwas vom Überdruß
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https://doi.org/10.11588/diglit.31850#0008

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Warum soll heute nur der Armeleutstll gelten?

Woher stammt die bei dem heutigenWohlstand erstaunliche Abkehr von Formen- und Schön-
heitssreude? Nur eine Erklärung gibt es dafür, den Äberdruß! Die Übersättigung an dem
Schönsten aus der ganzen Iahrtausende alten Entwicklung der Kunst, die wir weniger der Hetze
durch alle bekannten Stile, als dem unendlichen Widerkäuen der Kunstwissenschast verdanken.

Der Überdruß ist es, der den verwöhnten Schlemmer aus den Festsälen von Sekt und
Austern, aus dem Kreise schöner Frauen, aus den glänzenden Kulturzentren hinaustreibt.

Hinaustreibt aus Reisen durch die Sahara oder nach Spitzbergen, aus guten, zuverlässigen
deutschen Eisenbahnen in italienische Pünktlichkeit. Der Überdruß treibt die Leute in die
Natur zurück bis dahin, wo sie am wildesten ist, au die schrosfsten lebensgefährlichen Fels-
riesen der Hochgcbirge.

Sollten wir uns da wundern, wenn derselbe Überdruß den Architekten, der um jeden Preis
bemerkt sein will, dazu treibt, neueste Tagesmode zu bauen und sein Werk in Bild und Schrist
für die einzig wahre Kunst ausgeben zu lassen oder selbst so zu nennen; nicht nur, damit er
in der ungeheuren Masse bemerkt wird, sondern auch, weil er wirklich selbst des bekannten
Guten überdrüssig ist.

Wie die schönen Frauen jedes Fahr neue Märchenwolken um ihre Glieder hüllen, und den
schönen Kopsputz von gestern heute„schrecklich" sinden, so lassen die Architekten sich jetzt von Form
zu Form, von Stil zu Stil hetzen, inuner ausrichtig oder scheinbar in dem Glauben, nicht nur
Mode, sondcrn neue Kunst zu treiben. Als wenn neue Mode, neue Formen, die Kunst an sich
beeinslussen könnte. Eine schöne Melodie bleibt doch aus jedem guten Instrument schön, wenn
sie nur gut gespielt wird. Nein, der Überdruß am Gesehenen hat Bauherrn und Baukünstler
gepackt und die tausendstimmige Tagesschreiberei hetzt beide weiter.

ünd in zehn Iahren?! Wird eine abermalige „neue" Kunst die heutige abgelöst haben,
wie es seit Iahrtausenden schneller oder langsamer mit all den vielen „neuen Künsten" ge-
schehen ist wird es weiter geschehen so lange Menschen schasfen? — Wie dem sei, die Niesen-
werke einzelner Großer, die Tempel und Dome, die Burgen und Paläste werden wie
immer uud zu allen Zeiten ernst emporragen aus dem Gewimmel des Tages, unberührt vom
Schwalle des Lobes oder vom Straßenkot der Anfeindung, den der Droschkengaul der Tages-
mode in seinem Trab an ihre Sockelschichten spritzt.

Hosfen wir, daß bei dem nächsten Wechsel die Kunst sich daran erinnern wird, daß es noch
einenschönenformalenReichtumnamentlichinderArchitektur gibt und nicht nur die katzenjämmer-
licheDde derArmeleutbauerei, die augenblicklich von den federgewandtenDienern derTagesmode
sür das Heil des Heils ausgegeben wird. Dann werden auch in wenigen Iahren die Kunstschreiber
mit derselben Begeisterung und gleichem einseitigem Fanatismus eine völlig entgegengesetzte
Anschauung auf den Schild erheben, genau wie sie es vor 10 oder 20 Iahren getan haben.

And die Menge wird ihnen sofort zufallen nach dem Grundsatz, daß Künstler und Publikum
von jeder Formenformel bald übersättigt werden, sei sie nun gebildet nach den Stichworten
„stilvoll" oder „modern" oder „Zugendstil", oder „Biedermeier", „Schinkel", „Heimatkunst",
oder „Volkskunst".

Wenn aber dann der Sturm gewollter Entkleidung der Baukunst von Kunstsormen
vorübergerauscht sein wird, was wird dann das praktische Ergebnis sein? Ein völliges Ertöten
aller Fertigkeit, alles Könnens in den Künstlern und Kunstgewerblern. Es wird dann heißen
ganz von vorn zu lernen.

Man siel eben von einem Fehler in den andern. Vor wenig Fahren noch mußte
jedes Bahnwärterhaus in den Einzelformen möglichst monumental sein, etwas vom Palazzo
 
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