Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0225

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der romanische Stil. Plastik und Malerei. 211
des romanischen Stils doch nur Typen schildern, und Gruppen charak-
terisiren konnte; innerhalb derselben aber ist jedes Werk ein Indivi-
duum für sich, sowie der einzelne Steinmetz nach gemeinsamem Schema
doch das Capital der Säule auf seine Weise nach eigener Erfindung
ausmeiselt. Es war auf der einen Seite die antike Ueberlieferung in
der Basilika und im byzantinischen Gewölbe und der centralen
Kuppel, auf der andern Seite der frische Lebensdrang der Ger-
manen; beide Elemente sind überall wirksam, aber im Süden
Frankreichs und Italiens überwiegt das erstere, bei den Normannen,
Langobarden und Deutschen das andere. Der neue Geist, geschult
durch die Ueberlieferung, gewinnt in den Domen von Caen und
Bayeux, von Speier und Worms bereits einen gewaltigen formen-
klaren Ausdruck, und in San Zeno zu Verona hat er die formale
Schönheit der Antike beseelend durchklungeu; in San Miniato
zu Florenz, in der Marcuskirche Venedigs, in den Bauten von
Pisa und Zara entfaltet sich der Reichthum des frischen Lebens auf
der Grundlage der Ueberlieferung zu erfreuender Fülle des Wohl-
gefälligen. Aber wo auch das Ringen sein Ziel noch nicht gefunden
wo der dunkle Drang der Empfindung und der Phantasie noch nicht
zu harmonischer Ausbildung gekommen, überall ist doch etwas
Ursprüngliches, Ahnungsvolles, Zukunftreiches; das Gemüth wie der
Sinn für persönliche Selbständigkeit, diese Principien des Mittel-
alters, haben auch hier sich ausgeprägt.
U. Plastik und Malerei.
Der Anfang des Mittelalters hat das Gepräge einer primi-
tiven heroischen Zeit, in welcher der allgemeine nationale und
kirchliche Gedanke über das Individuelle herrscht, das für sich
noch der harmonischen Durchbildung entbehrt; darum überwiegt die
Architektur die plastische und malerische Darstellung der Persönlich-
keit, sowol was die künstlerische Empfindung als was die Natur-
erscheinung angeht. Die Architektur zieht die Schwesterküuste zum
Schmuck der Bauten heran und gibt ihnen den eigenen hieratischen
Charakter. Es gilt die religiöse Weltanschauung erwecklich zu ge-
stalten und innerhalb ihrer die kecken oder derben Naturtriebe zu
läutern. Die Eigenthümlichkeit des Mittelalters als einer Periode
der Vermittelung zeigt sich uns zunächst in dem Gegensätze des
frischen aber noch rohen Volksgeiftes mit der durch die Kirche ge-
tragenen Ueberlieferung einer fertigen frühern Technik und der in
14*
 
Annotationen