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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,2.1917

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Heft 12 (2. Märzheft 1917)
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Heiß, Hanns: Stendhal
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https://doi.org/10.11588/diglit.14296#0300

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rmpertinenter, igelhäutiger tzerr, der zwar unterhaltend plaudern kann,
wenn er bei Laune ist, und sich darauf versteht, blendend und prasselnd
ein Feuerwerk von Witz abzubrennen, der aber sein Plaudern zu gerne
mit Ananständigkeiten, Ruchlosigkeiten und heimlichen Bosheiten spickt, so
daß man nie recht sicher ist, ob er ernst spricht oder höhnisch, und nie das
beunruhigende Gefühl los wird: hier sitzt einer, der vor nichts Ehrfurcht
hat, nicht einmal vor dem Rachbar im Salon. Wie viele — von den
ganz wenigen abgesehen, die mit ihm vertrauter waren, soweit man mit
Stendhal vertraut sein konnte — mögen gewittert haben, daß sich hinter
diesem tzerrn Tieferes verbarg als ein unverschämter, selbstsüchtiger, herz«
loser Sonderling, der nur auf sein Vergnügen bedacht war und dem nach
der Iagd aus Frauen kaum etwas mehr Vergnügen machte, als seine Mit«
menschen zu ärgern, anzulügen und zum Rarren zu halten?

SLendhal hat die Ruhmlosigkeit, deren er sich bei Lebzeiten erfreute,
gelassen ertragen und hat mit verblüffender Zuversicht seine Wieder-
auferstehung für das Ende des V. Iahrhunderts angesagt. Bis dahin,
meinte er, würde sich die Flutwelle der Romantik verlaufen, die Welt
würde den von ihm so gehaßten lyrisch-überschwenglichen SLil satt haben,
würde sich, der Empfindungsduselei und der deklamatorischen Ornamentik
überdrüssig, nach Schlichtheit, Wahrheit und nüchterner Psychologie sehnen.
Dann würde man ihn ausgraben und dann würde er Leser finden, nicht
die Tausende, die er als Schöpsenherde abtut, aber die hundert, die er
fich wünscht, tÜ6 üapM denen er seine Schriften widmet (auf englisch,
um zu zeigeN) daß er ein vielseitig gebildeter Mann ist und die Vase
über Frankreichs Grenzen hinausgesteckt hat).

Die Weissagung hat sich erfüllt. Vor der Zeit sogar. Schon (83^ war
Sainte-Beuve, der ihn als geistreichen Kopf, aber durchaus als SchrifL-
steller dritter und vierter Ordnung betrachtete, erstaunt zu bemerken, daß
Stendhal die neue Generation zu fesseln begann. Rnd zehn Iahre später
wurde Stendhal von Taine ohne Vorbehalt unter die Großen gereiht;
Taine, der als erster die Kluft zwischen einem Balzac und einem Sue
oder einer Sand ermessen Hatte, hat auch SLendhal auf den Platz ge»
Hoben, auf dem wir ihn heute schauen. Als ihn nachher der Naturalis--
mus auf der Suche nach Ahnherren entdeckte, als ihn Zola „unser aller
Vater^ hieß, war sein Glück vollends gemacht. Naturalisten und NichL-
naturalisten nahmen ihn für sich in Anspruch. Mit den Schriftstellern
liefen ihm die Gelehrten zu, die Liebhaber, die Leser und selbst Leser aus
den verschmähten Tausenden. Das Ausland blieb nicht hinter Frankreich
zurück; Deutschland am wenigsten, wo ihm Nietzsche mit herausfordernder
Fanfare huldigte. Sein Buch „Aber die Liebe" ((822), seine Romane
„Rot und Schwarz" ((83() und „Die Karthause von Parma" ((839), seine
Novellen erlebten Ausgaben und Abersetzungen in Menge. Auch für
seine anderen Bücher fiel etwas von der allgemeinen Gunst ab, für seinen
frühesten Roman „Armance", für seine Plaudereien über Malerei und
Musik, über Reisen in Italien und Frankreich. Man sammelte seinen
Nachlaß, druckte Entwürfe und Bruchstücke, Briefe und Tagebuchblätter.
And vor Kriegsausbruch gab es, da und dort in Europa verstreut, eine
schwärmerische Stendhalgemeinde mit Stendhalphilologen, die am liebsten
seine tzosenbünde und tzosenträger ediert hätten, auf die er nicht nur Tag
und Stunde galanter Abenteuer, sondern gelegentlich auch inhaltsschwerere
Mitteilungen zu kritzeln Pflegte.

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