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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Michel, Wilhelm: Gespräch mit einem Ernüchterten: Der Ernüchterte, der Künstler
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0079

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GESPRÄCH MIT EINEM ERNÜCHTERTEN

DER ERNÜCHTERTE — DER KÜNSTLER

Der Ernüchterte: „Und so, mein Freund, ge-
hört die Kunst unter die Rauschmittel der
Menschheit. Wir vertragen das Wachsein nicht
_ das ist das allgemeine Geheimnis der Reli-
gionen, der Künste und all der Fabelwelten, die
der Mensch seit je in die Wolken gebaut hat.
Träumer sind wir, die Angst haben, zu erwachen.
Und ihr, Künstler, seid die Darbieter der from-
men Opiate zum frommen Betrug."

Der Künstler: „Sollte es nicht noch andre
Rauschmittel geben als die Kunst und die Re-
ligion? Besinnen Sie sich doch einmal!"

Der Ernüchterte: „Gewiß gibt es noch an-
dere! Zu den Rauschmitteln zählt weiterhin
der Tanz, die Rauschgifte selbst."

Der Künstler: „Gut. Und die Liebe?"
Der Ernüchterte: „Die Liebe vor allen Din-
gen ! Glauben Sie nicht, mich fangen zu kön-
nen ! Das Sprüchwort weiß es: Die Liebe macht
blind! Das ist zwar zunächst in einem derben,
diesseitigen Sinn gemeint; etwa so, daß die
Liebe blind macht für die Fehler des geliebten
Gegenstandes. Aber sie macht auch blind für

das wahre, nüchterne Wesen des Lebens, ja
für die Wahrheit überhaupt. Kennen wir nicht
die alte Beziehung zwischen Liebe und Poesie?
Der verliebte Mensch ist poetischer Laune, aber
diese pflegt mit dem Besitzen zu schwinden.
Liebe wird Poesie, wird Kunst, insofern sie
nicht zum Haben kommt. Wahrlich, ein kläg-
licher Grund zum Dichten! Man gebe dem
Hans sein Gretchen, oder — ich weiß Ihre ent-
rüstete Miene zu deuten — man gebe dem
Petrarca seine Laura — und die Sonette sind
dahin! Aus Nichts wird das große Etwas der
Kunst. Gestatten Sie, daß ich zurückverwandle:
das große Etwas der Kunst kommt aus dem
„Nicht". Was liegt wohl näher, als daraus zu
schließen: Es ist — nichts?"

Der Künstler: „Meister Eckhart hat gesagt:
Gott ist das Nichts."

Der Ernüchterte: „Wohlan! Warum soll ich
das nicht buchstäblich nehmen dürfen? Gott
ist nichts — habemus reum confitentem!"

Der Künstler: „Es fehlt nur der wichtige
Nachsatz: Aus diesem Nichts allein leben wir.
 
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