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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Michel, Wilhelm: Kunst als Versprechen und Forderung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0177

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KUNST ALS VERSPRECHEN UND FORDERUNG

Erinnerst du dich noch, wie du in deiner
Jugend vor der Kunst standest? Denke
an deinen ersten Theaterbesuch. Was war das
Besondere dieses Ereignisses? Die bunten
Menschen standen auf der Bühne wie heute,
die Geigen sangen, das schöne Licht erfüllte
die Szene; alles war, wie du es heute noch
kennst. Aber die Bedeutung, die es für dich
annahm, war unvergleichlich viel tiefer und
voller. Denn diese erste Begegnung mit der
Kunst versprach dir eine ganze Welt, prophe-
zeite dir eine künftige zauberhafte Wirklichkeit.
Sie schien dich in ein reiches Leben voll Kraft
und Wert zu rufen. Sie wußte und redete von
einem Dasein, in dem es keinen Tod und keine
wertlose Alltäglichkeit gab. Sie sprach mit
voller Bestimmtheit von einem erhöhten, fest-
lichen, glänzenden Leben. Wenn du heute daran
zurückdenkst, befällt dich eine wunderbare
Schwermut, ein Heimweh, das dich wie in eine
goldene Wolke einhüllt. Denn das Leben hat
ßs bitter anders mit dir gemeint. Du bist, ohne

es zu ahnen, den breiten Weg der Vielen ge-
gangen, du hast das große Fest nicht gefeiert,
die Prosa ist über dich Herr geworden, der
Glanz ist vom Dasein abgestreift. So mächtig
kann ein Kunsterlebnis der Jugend im Geiste
stehen, daß du dich vor ihm schuldig fühlst, wie
vor einer Forderung, der du nicht genügt hast,
oder wie vor einer Liebe, die dir entgegenge-
bracht wurde und der du nicht geantwortet hast.

Denke an die Bilder in deinen ersten Mär-
chenbüchern, an Ludwig Richter und Gustav
Dore. Denke daran, wie du zum ersten Male
Schwinds „Waldkapelle" erblicktest, oder Bot-
ticellis blonde „Simonetta"! Was du da sahst,
blieb nicht vor dem Auge stehen, sondern drang
tief in dein Leben ein. Es wurde dir zur Welt,
in der du eigentlicher lebtest (wenigstens zu
Zeiten), als in der Wirklichkeit, die uns allen
gemein ist. Diese Bilder waren Ausschnitte aus
einem höheren Leben, und du versprachst dir,
in dieses höhere Leben einstmals Zugang zu
finden. Du sahst in ihnen das Fest; du be-
 
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