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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Michel, Wilhelm: Der Innenraum und der Klang
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0203

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FRITZ AUGUST JiREUHAUS

»VORHALLE IM HAUSE K.

DER INNENRAUM UND DER KLANG

Wir sind alle so erzogen, daß wir die Kunst-
form, also auch die eines Innenraumes, als
eine Angelegenheit des Auges auffassen. Wir
wissen zwar, daß die Baumeister von jeher bei
Kirchen, Versammlungs- oder Konzertsälen auf
die richtige Führung der Tonwellen Rücksicht
genommen haben. Aber wir haben das immer als
eine abgesonderte, gewissermaßen rein tech-
nisch-praktische Rücksicht auffassen gelernt, die
mit der Augenform zunächst nichts zun tun hat.

Da hörte ich jüngst in einer Klosterkirche im
Schwarzwald ein Orgelspiel. Es war eine Klang-
pracht ohnegleichen, ein riesenhaftes, farbiges
Gefüge von Hall und Widerhall, aufgefüllt, ab-
gewandelt von eingemischten Ton-Reflexen hun-
dertfach verschiedenen Grades. Ich erlebte, daß
das Gesehene des Raumes im Augenblick fast
zur Unwichtigkeit herabschmolz, um dem Ton-
Erlebnis Platz zu machen. Aber alsbald stieg
das Sichtbare des Raumes, Langschiff, Querschiff,
Chor, aus der Flut der Töne wieder empor,
nunmehr ein tongeborenes Gebilde, das in der
Klangpracht der Orgel einen neuen und, wie mir
schien, seinen eigentlichen Sinn enthüllte. Die

Klänge gaben dem Bau eine neue, überwältigend
klare und große Deutung. Sie erläuterten ihn
mit allen seinen Teilungen, Breiten und Höhen.
Sie sprachen: Dies ist nicht nur ein Haus des
Lichtes und der Schatten, der Steinkühle und
der Farben und der ragenden Höhen; dies ist
vor allem ein Haus des Klanges, eine riesige
Fassung für eine üppige Tonwelt. Diese Kirche
will nicht nur gesehen, sondern vor allem auch
gehört werden. Sie ist eine Gehörsform so gut
wie eine Gesichtsform, und wahrscheinlich ist
sie als Gesichts-Form nur deshalb so vollendet,
weil sie als Gehörs-Form vollendet ist. Erst mit
dem akustischen Erlebnis war der Raum voll-
kommen in meine Sinne gedrungen; und ich
weiß seitdem, daß man einen Raum nicht nur
sehen, sondern auch hören muß, um ihn zu
„kennen", um zu erfahren, was er für den
ganzen Menschen bedeutet. Klang als Raum-
erläuterung — das war das Ergebnis der feier-
lichen Stunde. Der Klang führt zu tastbaren
Formen so gut wie der Lichtstrahl. Und zwar ist
ein jeder Raum als akustische Form ebenso un-
zweideutigindividuell wie als gesehene Form.w.M.
 
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