Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

DOI Artikel:
H. Sch.: Geschmack und Urteil: (Bemerkungen zum Wesen der Kritik)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0205

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
GESCHMACK UND URTEIL

(bemerkungen zum wesen der kritik)

In unseren Tagen veranlassen vielfältige Ten-
denzen und oft zuwiderlaufende Ausdrucks-
setzungen im weitem Bereich der Kunst, daß
schöpferische Lebensäußerungen heißer um-
stritten sind als je. Gar zu oft hört man das
Wort: „Ich verstehe vielleicht nichts von Kunst,
aber ich weiß, was mir gefällt." Man sagt das-
selbe auch mit dem Shylock-Zitat: „Wie einer
eine Katz nicht leiden kann, ein andrer einen
Hund" . . . und mit dem beliebten Satz: „De
gustibus non est disputandum" wird diese Be-
hauptung zweitausend Jahre alt.

Der Grundgehalt dieser weit verbreiteten
Meinung ist, daß aller Geschmack und somit
alles Urteil in Kunstdingen persönlich, indivi-
duell sei. Mit der Anerkennung dieser These
wäre ein höherer Anspruch der Kritik ohne
weiteres verfallen. Es wäre zugestanden, daß
es in der Kunst und für das geschaffene Werk
allgemeine Gültigkeiten, absolute Kriteria nicht
gibt. Sobald man sich zu solchen Äußerungen
hinläßt, wird man natürlich als erste alle die
gegen sich haben, die sich zuvor auf die Sub-
jektivität des Geschmacks versteiften. Denn
daß durch die Kunst allgemein Gültiges und
überpersönlich Maßgebendes geleistet wird,
steht außer allem Zweifel.

Man wird notwendigerweise von der Seite
der objektiven Gültigkeiten zur Sache vorgehen
müssen, um alsdann dem Subjektiven seinen
Rang zur Urteilsbegründung anzuweisen. Jedes
Denken zur Kunst — soweit es sich nicht in
das Gebiet des Übergestaltigen, die Metaphysik
verläuft — ist Sinnsetzung. Jedes Urteil ist
seinem Wesen nach Werterkenntnis. Werte
pflegen durch den lebendigen Sinn der Ge-
schichte absolut zu werden. Da sich im Rah-
men von kulturellen und zeitlichen Entwick-
lungen geistige Gültigkeiten als verpflichtend
erweisen, müßte für den Beurteiler eines Kunst-
werks die These lauten: „Es ist nicht wichtig,
daß ich weiß, was mir gefällt, sondern daß ich
erkenne, was mir gefallen sollte. ."

Es gilt daneben notwendig die subjektive
Seite der Sache zu sehen. Die Einstellung des
Einzelnen zum Kunstwerk ist zunächst keine
gedankliche, sondern eine sinnliche. Kunstbe-
trachtung ist Erlebnis, abhängig von den Fähig-
keiten des Subjekts. Jedes Erlebnis geht auf das
Empfinden von Gehalt zurück. „Wo nichts ist,
kann man nichts erleben." Hierzu ist aber als
wesentlicher Punkt die Wandelbarkeit und Be-

grenztheit des subjektiven Geschmacks heran-
zuziehen. Wir können heute vor einem ge-
malten Porträt die entscheidende Frage ver-
neinen und nach zwei Jahren kann uns, mit
Matthias Claudius zu reden, der „unnennbare
Fremdling darinnen" lieb und teuer sein. Selbst
die Bekannten Shylocks hätten vielleicht unter
gewissen Umständen noch dieser einen Hund
und ein andrer eine Katz leiden gelernt. Ver-
gessen wir nicht, es gibt diese wunderbare
Parabel vom Schönfinden, die Andersen im
Gärtner von Manor erzählt; da entdeckt der
alte Gärtner Larsen die Schönheit einer Arti-
schockenblüte , und auf unterhaltenden Um-
wegen zeigt die Geschichte an, wie sein Ge-
schmacksempfinden rechtskräftig wird. Zu dieser
Wandelbarkeit des Urteils tritt die Begrenzung
der Urteilsfähigkeit des Individuums. Sagt der
alte Lichtenberg: „Wenn ein Buch und ein Kopf
zusammenstoßen und es klingt hohl, ist es dann
allemal im Buch?" — Der subjektiven Kritik
gegenüber läßt sich daher kein anderer Satz
aufstellen als der gute Rat, seine Unzulänglich-
keit anzuerkennen, über sich hinauszukommen,
das heißt zu lieben und prüfend und verant-
wortungsvoll die Sache von Neuem zu sichten.

Jede belangvolle Geschmacksäußerung und
jedes verantwortliche Kunsturteil kommt aus
eingehender Prüfung seiner selbst und der Sache.
Wir alle wissen, daß eine endgültig objek-
tive Einstellung nicht zu erzielen ist. Wir
wissen auch, daß Werte der Umwertung unter-
liegen, daß Gehalte letzten Endes nur an ihrer
fruchtbaren Wirkung als unbedingt abzulesen
sind. Wenn wir trotzdem den Fortschritt von
Geschmack und Urteil über das Persönliche
fordern müssen, so geschieht dies mehr noch
als aus der Erkenntnis subjektiver Unzuläng-
lichkeit vom Wissen und Gewissen für die
großen Bindungen her. Das Anrecht der All-
gemeinheit steht über der Wollung des Einzel-
nen, die Sache der Kultur ist für den Kritiker
entscheidender als die Angelegenheit der per-
sönlichen Pflege. Kritik dem Schaffenden gegen-
über ist nur ermächtigt, wenn sie den Anspruch
des Allmenschlichen, die Kenntnis des Überge-
ordneten vertritt und wahrmacht. Solange die
Eigenart des Kulturwillens und die Grundge-
setze seiner zeitlichen Verlautbarung in der
Kunst nicht erkannt und anerkannt sind, wird es
allerdings sinnlos, wenn auch oft recht förder-
lich sein, über den Geschmack zu streiten, h. sch.
 
Annotationen