vally wieselthier—wien
bunt glasierte keramik«
DAS ZEUGNIS DES KUNSTWERKS
-J
ede Zeit schreibt ihre Geschichte am wahr-
sten in den Kunstwerken, die sie schafft",
sagt Hermann Grimm. Dieses Wort hat seinen
guten Grund. Er liegt darin, daß die Kunst die
einzige menschliche Betätigung ist, in der nicht
gelogen werden kann, wenigstens nicht mit Er-
folg. Das Kunstwerk spricht immer Wahrheit
aus. Das heißt durchaus nicht, daß es nicht in
jeder Zeit Künstler gegeben habe, die sich durch
irgendwelche Manier oder künstlich eingenom-
mene Haltung bedeutender hinzustellen ver-
sucht haben, als es der Wahrheit entsprach.
Aber diese Täuschungs versuche werden alsbald
durchschaut. Das Kunstwerk verrät mit einer
untrüglichen Genauigkeit den wahren Sachver-
halt. Es zeigt mit der Feinheit einer Präzisions-
wage an, was an positiver Kraft, an so be-
schaffener Lebensregung im Künstler vorhanden
war. Es gibt an, in welchem Verhältnis diese
Kraft zum bewußten Verlangen der betreffen-
den Zeit stand, und sehr oft läßt es uns einen
schroffen Widerspruch erkennen zwischen den
bewußten Strebenszielen einer Zeit und ihrem
tatsächlichen Vermögen. Das Kunstwerk bringt
nicht nur das Bewußte, sondern auch das Un-
bewußte seines Urhebers zum Ausdruck. Oft
verrät es gerade das, was dieser verschweigen
will. Und ebenso oft straft es dasjenige Lügen,
was sein Urheber für Wahrheit ausgeben möchte.
Das Kunstwerk kann nicht lügen. Und da jeder
Künstler vor allem ein Kind seiner Zeit ist; da
er von ihrer geistigen Gesamtlage viel mehr
abhängig ist, als unser subjektives Selbstgefühl
in der Regel zugestehen mag — deshalb wird
die künstlerische Leistung einer jeden Epoche
zur großen Aussage über ihre Tugenden und
Schwächen, zum Selbstbekenntnis, in dem für
den wissenden Leser alles Offene und Geheime
ihrer Seele dargelegt ist.
Der Künstler, der dies begriffen hat, wird
jede Versuchung, sein Schaffen aus irgend einem
falschen, unechten Material zu bestreiten, als
aussichtslos von sich weisen. Der Kunstfreund
aber, der die gleiche Wahrheit begriffen hat,
wird sich zu Herzen nehmen, daß jedes Kunst-
werk seiner Zeit auch von ihm selber etwas
aussagt, weil es ja die Gesamtlage dieser Zeit
enthüllt; er wird die unlösbare Verbindung,
die zwischen ihm und der Kunstleistung der
Gegenwart besteht, je nachdem freudig oder
demütig anerkennen. Aber in jedem Falle wird
er eine neue, vertiefte Liebe und Achtung zur
ihr fassen als zu einem Tun, das im Tiefsten
auch ihn selbst betrifft.......... w. m.
264
bunt glasierte keramik«
DAS ZEUGNIS DES KUNSTWERKS
-J
ede Zeit schreibt ihre Geschichte am wahr-
sten in den Kunstwerken, die sie schafft",
sagt Hermann Grimm. Dieses Wort hat seinen
guten Grund. Er liegt darin, daß die Kunst die
einzige menschliche Betätigung ist, in der nicht
gelogen werden kann, wenigstens nicht mit Er-
folg. Das Kunstwerk spricht immer Wahrheit
aus. Das heißt durchaus nicht, daß es nicht in
jeder Zeit Künstler gegeben habe, die sich durch
irgendwelche Manier oder künstlich eingenom-
mene Haltung bedeutender hinzustellen ver-
sucht haben, als es der Wahrheit entsprach.
Aber diese Täuschungs versuche werden alsbald
durchschaut. Das Kunstwerk verrät mit einer
untrüglichen Genauigkeit den wahren Sachver-
halt. Es zeigt mit der Feinheit einer Präzisions-
wage an, was an positiver Kraft, an so be-
schaffener Lebensregung im Künstler vorhanden
war. Es gibt an, in welchem Verhältnis diese
Kraft zum bewußten Verlangen der betreffen-
den Zeit stand, und sehr oft läßt es uns einen
schroffen Widerspruch erkennen zwischen den
bewußten Strebenszielen einer Zeit und ihrem
tatsächlichen Vermögen. Das Kunstwerk bringt
nicht nur das Bewußte, sondern auch das Un-
bewußte seines Urhebers zum Ausdruck. Oft
verrät es gerade das, was dieser verschweigen
will. Und ebenso oft straft es dasjenige Lügen,
was sein Urheber für Wahrheit ausgeben möchte.
Das Kunstwerk kann nicht lügen. Und da jeder
Künstler vor allem ein Kind seiner Zeit ist; da
er von ihrer geistigen Gesamtlage viel mehr
abhängig ist, als unser subjektives Selbstgefühl
in der Regel zugestehen mag — deshalb wird
die künstlerische Leistung einer jeden Epoche
zur großen Aussage über ihre Tugenden und
Schwächen, zum Selbstbekenntnis, in dem für
den wissenden Leser alles Offene und Geheime
ihrer Seele dargelegt ist.
Der Künstler, der dies begriffen hat, wird
jede Versuchung, sein Schaffen aus irgend einem
falschen, unechten Material zu bestreiten, als
aussichtslos von sich weisen. Der Kunstfreund
aber, der die gleiche Wahrheit begriffen hat,
wird sich zu Herzen nehmen, daß jedes Kunst-
werk seiner Zeit auch von ihm selber etwas
aussagt, weil es ja die Gesamtlage dieser Zeit
enthüllt; er wird die unlösbare Verbindung,
die zwischen ihm und der Kunstleistung der
Gegenwart besteht, je nachdem freudig oder
demütig anerkennen. Aber in jedem Falle wird
er eine neue, vertiefte Liebe und Achtung zur
ihr fassen als zu einem Tun, das im Tiefsten
auch ihn selbst betrifft.......... w. m.
264