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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Ruppel, Karl Heinrich: Dämmerungsstunden in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0409

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DÄMMERUNGSSTUNDEN IN DER KUNST

In der Einleitung zu seinen „Französischen
Malern" schreibt Heinrich Heine einmal:
„Da (im Louvre) standen sie, an die dreitausend,
die hübschen Bilder, die armen Kinder der Kunst,
denen die geschäftige Menge nur das Almosen
eines gleichgültigen Blicks zuwarf. Mit stum-
men Schmerzen bettelten sie um ein bißchen
Mitempfindung oder um Aufnahme in einem
Winkelchen des Herzens. Vergebens! Die Her-
zen waren von der Familie der eigenen Gefühle
ganz angefüllt und hatten weder Raum noch
Futter für jene Fremdlinge. Aber das war es
eben, die Ausstellung glich einem Waisenhause,
einer Sammlung zusammengeraffter Kinder, die
sich selbst überlassen gewesen und wovon keins
mit dem anderen verwandt war". Ich glaube,
daß mit diesen Worten eine der furchtbarsten
Situationen umschrieben ist, in die die Kunst
geraten kann. Heine sagt da nicht mehr und
nicht weniger, als daß die Kunst hier eine Rolle
zu spielen gezwungen ist, die das genaue Gegen-
teil von der ist, die ihr zukommt: Sie, deren
Wesen die Freiheit, deren Kraft die Verbindung,
deren Zeichen der Überfluß ist, ist hier zur
vereinsamten, gequälten, bettelnden Almosen-
empfängerin geworden. Sie, die sonst um eine
aufrichtige, unauslöschliche, ja leidenschaft-
liche Liebe wirbt, bettelt um ein wenig Mit-
empfindung. Es ist für jede Art Stolz unerträg-
lich, wenn Liebe nichts anderem als dem Mitleid
entspringt; ganz besonders aber widerspricht
es der inneren Würde und dem Stolz der Kunst,
wenn sie nur aus Mitleid geduldet wird. Das
heißt dann nichts anderes, als daß sie aus dem
Zusammenhang der lebensnotwendigen u. leben-
spendenden Kräfte herausgenommen ist, daß
sie nicht mehr als ein Lebensinhalt, sondern nur
noch als eine Randbemerkung dazu gefaßt wird.
Hier vor allem wird es deutlich, welch eine Be-
schädigung geistiger Zusammenhänge die Ver-
einzelung der Kräfte bedeutet. Die Verwandt-
schaft, das Bewußtsein der Zusammengehörig-
keit ist es, das die Dinge stark und wirksam
macht, das sie zur Lebensdeutung befähigt.
Eine Kunst, die nicht durch den Herzschlag ge-
meinsamen Empfindens geleitet wird, die aus
dem Zusammenhang der Teile, die den großen
Organismus Leben ausmachen, herausgelöst

*

wird, hat keinen Bestand mehr und muß ver-
kümmern. Im lebendigen Körper sind Lunge,
Herz und Hirn sinnvoll, ja schön in ihrer ge-
meinsamen Funktion; herausgenommen, sind sie
ein totes Stück Anatomie, bar jeder Wirkung.

Es ist deshalb ein Widersinn ohnegleichen,
wenn die Kunst, die wie nichts auf der Welt
den Menschen der Vereinzelung enthebt und
ihn im höchsten Sinn gemeinschaftlich macht,
selbst in Vereinzelung gerät. Zeiten, in denen
das geschieht, haben immer etwas von einer
Kunstdämmerung an sich, im übertragenen Sinn
sogar etwas von einer Menschendämmerung,
denn sie entwerten das in künstlerische Form
eingelassene Schöpferische und Geistige im
Menschen. Sie isolieren den Menschen in sich
selbst; die Sprache drückt es sehr genau aus:
sie „überlassen ihn sich selbst". Es tritt dann
jene Angefülltheit des Herzens mit der Familie
der eigenen Gefühle auf, von der Heine spricht,
die für das Wesen des Außerhalben, das um
Aufnahme bittet, keinen Raum und für seine
Sprache keine Antwort mehr hat. Dann wird
auch die Kunst wesenlos und aus ihrer Heimat,
die das Herz des Menschen ist, vertrieben. Frei-
lich ist es immer so gewesen, daß die Kunst
diese Dämmerungsstunden überwunden hat.
Nicht allzulange nach der Zeit, in der Heine die
angeführten Sätze geschrieben hatte, griff die
Kunst wieder mit mächtiger Bewegung um sich
und noch als der Kampf der Geister am hef-
tigsten tobte, hatte der Impressionismus schon
die Herzen ergriffen. Das heißt aber, daß der
Mensch sich wieder dem Schöpferischen zuge-
wandt hatte, daß es ihm unter irgendeiner Form,
wenn auch zuerst unter der der Ablehnung,
wieder erfahrbar geworden war. Aber es kommt
nicht darauf an, mit welchem Vorzeichen sich
die Beziehung zwischen Kunst und Mensch zu-
erst wieder anknüpft; wesentlich ist, daß sie
überhaupt wieder gefunden wird. Den rechten
Weg wird die Kunst dann gehen. Sowie sie
wieder in den großen Lebensstrom eingemün-
det ist, ist sie stark im Schöpferischen, groß in
der Bedeutung. Noch immer ist die Kunst nach
Dämmerungsstunden zu neuem Glanz erwacht,
sowie alltäglich den Nebeln der Dämmerung
der festliche Morgen folgt.....k. h. ruppel.

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