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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Rohe, M. K.: Willi Geiger - München
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Urzidil, Johannes: Die Magie des Unvollendeten
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0226

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Willi Geiger-München

lassen, gegenüber seinen rein formalen Werten,
die tiefsten und auf die Dauer einzig tragfähigen
Wirkungen, die von ihm ausgehen können, lassen
sich nur durch die Formensprache an sich er-
reichen. Das künstlerische Erleben ist da von
dem Erlebnis des Auges nicht abzutrennen.
Mag ein bildkünstlerisches Werk darstellen,
was immer — und man soll dem Künstler die
Freiheit in der Wahl des Stoffes in keiner Weise
beschränken — unmittelbar wirksam für das
Gefühl wird es erst durch die besondere Ge-
staltung innerhalb einer Fläche oder des Rau-
mes und von Kunstschaffen kann erst die Rede
sein, wenn solche Organisation vor sich ge-
gangen ist. Keine Tiefe der Gedanken kann
dafür Ersatz bieten oder über die wahren Not-
wendigkeiten hinwegtäuschen.

Um Geigers Künstlertum wäre es schlecht
bestellt gewesen, wenn in seinem Wesen das
Literarische dominiert hätte und wenn die welt-
anschaulichen Ideen und transzendentalen Re-
gungen, die mancher Literat ihm anzudichten
beliebte, nicht eher die Angelegenheit seines
Interpreten gewesen wäre, als seine eigene.
Wenn er, mit einem Wort, als Philosoph statt
als Bildner vor uns stände.

Aber es war ihm von vorneherein stärkster
Formtrieb mitgegeben, der gerade im Laufe
seiner Entwicklung immer reiner sich Geltung
verschafft hat. Ich will nicht sagen, daß diese
Entwicklung sich durchaus geradlinig und kon-
sequent vollzogen hat, wie das behauptet wor-
den ist. Und merkwürdigerweise war es ge-
rade einer der Vorzüge dieser eminenten Be-
gabung: die Überfülle seiner Phantasie, die
ihm oftmals hinderlich im Wege stand. Der
Überreichtum an Vorstellungskraft bedrängte
bei ihm mitunter den Kunstverstand, der bei
der Organisierung der formalen Werte ein ge-
wichtiges Wort mitzusprechen hat. Es spricht

aber für die Echtheit der künstlerischen Be-
gabung Geigers, daß er manch Labiles in
seinem Wesen doch immer wieder zu einem
harmonischen Ausgleich zu führen wußte. Be-
wundernswert ist die Energie, mit der er trotz
manchen Irrganges und mancher Hemmung
schließlich den Erfolg erzwungen hat. Nur so war
es möglich, uns eine Fülle hervorragender Lei-
stungen zu schenken, und vor allem die geschlos-
sene Reihe jener ausgezeichneten Arbeiten zu
erzeugen, die seit Kriegsende von ihm vorliegen.

Über den Graphiker Willi Geiger braucht man
heute kein Wort mehr zu verlieren. Seine Be-
deutung ist längst anerkannt, und die Mappen-
werke und Radierungen, die er geschaffen, kennt
jeder Liebhaber der zeichnerischen Künste, und
seine kongenialen Illustrationen zu den Werken
großer Erzähler und Dichter sind hochbewertet
und nach Gebühr geschätzt. Seit Jahren nun
tritt der Maler Geiger immer eindringlicher an
die Öffentlichkeit. Auf dem Gebiete der Ma-
lerei war es auch, wo sich am bedeutsamsten
des Künstlers Auseinandersetzung mit der neuen
Kunsteinstellung vollzogen hat, die so überaus
interessant bei ihm ist. Wo er heute in seiner
Malerei steht, das zeigen die in diesem Hefte
wiedergegebenen Arbeiten, die alle jener wich-
tigen Epoche seit Kriegsende angehören. An
einem so schönen Werke, wie dem Bildnis des
Komponisten Pfitzner zeigt sich am vollendet-
sten der Ausdrucksgehalt, zu dem er gegen-
wärtig gelangt ist. Dies Bildnis bleibt vor allem
nicht in dem Formelhaften befangen, das so
viele Schöpfungen der Expressionisten an sich
haben, sondern ist reich an innerer Fülle und
unmittelbarer Lebendigkeit. Sie zu erreichen
war nur einem Künstler möglich, dem sich
der Sinn der Form aus dem Menschlichen er-
schlossen hat, nicht aus rein intellektuellen Er-
wägungen..........M. K. ROHE—HAMBURG.

DIE MAGIE DES UNVOLLENDETEN

Wir haben gelernt, das Fragment zu lieben, Das Fragmentarische der Romantik ergreift uns
die zerbrochenen, zitternden, ungenauen lebhafter als die Klassizität erhabener Genien
Konturen, welche der Impressionismus in die und ebenso ist es mit den unvollendeten Sym-
Kunst brachte. Oft lieben wir die Andeutung phonien großer Meister, mit den Sklaven und
mehr als das Deutliche, den Entwurf mehr als den Mediceergräbern des Michelangelo oder mit
die Vollendung, die Skizze mehr als die Aus- fast allem, was Lionardo hinterlassen hat.
führung, den Hinweis auf eine Idee mehr als Aber unsere Zeit liebt auch den Torso, die
die Idee selbst. Unter den Werken des Heinrich ruinösen Reste ehemaliger Vollkommenheiten,
von Kleist steht uns „Robert Guiscard" am sie findet die Schönheit in einem Kopf ohne
nächsten, die zertrümmerten Harmonien der Nase, das heilige Ebenmaß in einem Marmor-
Wahnsinnsgedichte Hölderlins, Flauberts „Jules leib, dem alle Glieder amputiert sind, wie sie
und Henry", der uns reizvoller scheint als die auch die Eintracht der Farben in einem halbzer-
Verwirklichungender„Educationsentimentale". fressenen Wandgemälde zu erkennen vermag.
 
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