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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Ritter, Heinrich: Abrüstung der "Richtungen"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0328

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e. w. nav—berlin.

gemälde »promenade«

ABRÜSTUNG DER „RICHTUNGEN"

Wenig bemerkt von den Zeitgenossen, hat
sich ein wichtiges Ereignis vollzogen:
Es gibt in der Kunst keine alleinseligmachende
Richtung mehr, die Ismen sind dahingeschwun-
den, wir stehen den Fragen und den Leistungen
der Kunst ohne engherzige „konfessionelle"
Bindung gegenüber. Der vielverschrieene Re-
lativismus der heutigen Zeit — hier hat er etwas
einwandfrei Gutes gestiftet. Wir erleben so
etwas wie das Aufhören einer Inquisition oder
wie das Ende einer Ära von Hexenprozessen.
Es gibt keine künstlerischen Ketzergerichte
mehr, keine anmaßliche Orthodoxie, keine fin-
steren, fanatischen Parteigänger. Man darf ma-
len, wie man es für richtig hält, man darf schön
finden, was einem gefällt. Ein Hauch von der
Toleranz des 18. Jahrhunderts, eine helle,
lächelnde Nüchternheit ist über die Kunst ge-
kommen. Die Exklusivität der Gruppen — wo
ist sie hin? Gewiß, einige Unterschiede mögen
sich gehalten haben; aber im großen Ganzen
gehen Glaspaläste und Sezessionen vielfach in
einander über, weil sie beide sich nicht grund-

sätzlich gegen irgend eine künstlerische Welt-
anschauung verschließen. Nur in kunstethi-
schen, in Gesinnungs-Fragen haben sich noch
einige Abgrenzungen erhalten, dergestalt, daß
man sich hier gegen industrielle, manieristische,
auf den Markt bezogene Arbeitsmethoden
strenger abschließt als dort.

Aber im übrigen ist die lang ersehnte Frei-
zügigkeit des Geschmacks eine vollendete Tat-
sache geworden, und sie verspricht als Folge
ein noch wertvolleres Ergebnis. Sie verspricht
eine durchgreifende Erneuerung und Be-
lebung der Beziehungen zwischen der Kunst
und den Menschen. Denn ohne Zweifel hat
die allgemeine Abrüstung der Schulmeinungen
das Gefühl für die Gleichberechtigung der ein-
zelnen künstlerischen Grundtypen gestärkt und
damit die verschiedenartigsten Begabungen zur
Arbeit und Äußerung gerufen. Darin liegt die
Gewähr, daß fortan viel breitere Kreise von
der heutigen Kunst angesprochen werden. Möge
sich dieses Verhältnis bald auswirken, zum Nut-
zen der Kunstfreunde und der Künstler, h. r.
 
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