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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

DOI Artikel:
Picasso, Pablo: Ein Brief von Pablo Picasso
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0297

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Ein Brief von Pablo Picasso

PABLO
PICASSO
»LESENDE
FRAU «1921

also ihr Eigentliches erst darbringen soll. Er ist
ein Stadium ursprünglicher, selbständiger For-
men, die das Recht haben, ihr eigenes Leben
zu führen. Wenn der Kubismus in der Meta-
morphose ist, wird aus ihm selbst eine neue
Form des Kubismus hervorgehen. Man hat den
Kubismus mathematisch, geometrisch, psycho-
analytisch zu erklären versucht. Das ist pure
Literatur. Der Kubismus hat plastische Ziele.
Wir sehen darin nur ein Mittel, das auszu-
drücken, was wir mit dem Auge und dem Geist
wahrnehmen, unter Ausnutzung der ganzen
Möglichkeiten, die in den wesenhaften Eigen-
schaften von Zeichnung und Farbe liegen. Das
wurde uns eine Quelle unerwarteter Freuden,
eine Quelle der Entdeckungen.

Rousseau der Zöllner ist nicht ein vereinzelter
Fall. Er stellt die Vollendung einer gewissen
Ordnung des Geistes dar. Das erste Werk des
Zöllners, das ich zu erwerben Gelegenheit hatte,
gebar sich in mir mit einer unwiderstehlichen
Gewalt. Ich ging durch die Rue des Martyrs.
Ein Trödler hatte längs der Hauswand Haufen

von Bildern aufgestellt. Ein Kopf ragte hervor,
ein Frauenkopf, der hart und mit französischer
Eindringlichkeit blickte: Entschiedenheit und
Klarheit. Die Leinwand war riesengroß. Ich
fragte nach dem Preis, „Hundert Sous", sagte
der Händler; „Sie können drauf malen".

Das ist eines der wahrsten, psychologischen
Porträts, die ich kenne.

Ich staune über die mißbräuchliche Verwen-
dung, die man dem Worte „Entwicklung" an-
gedeihen läßt. Ich entwickle mich nicht, ich
bin. Es gibt in der Kunst weder Vergangenheit
noch Zukunft. Die Kunst der Griechen oder der
Ägypter ist nicht Vergangenheit; sie ist heute
lebendigeralsje. VeränderungbedeutetnichtEnt-
wicklung. Wenn ein Künstler seine Ausdrucks-
weise ändert, so heißt das, daß er sich in seiner
Denkweise gewandelt hat — was einem Men-
schen, selbst einem Künstler, stets erlaubt ist.

Ich habe immer für meine Zeit gemalt. Ich
habe mich nie mit Sucherei belastet. Was ich
sehe, stelle ich dar, manchmal in der, manch-
mal in jener Form. Ich grübele weder, noch
 
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