Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

DOI Artikel:
Niebelschütz, Ernst von: Massenwille und Persönlichkeit
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0357

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Massenwitte und Persönlichkeit

die Kunstgeschichte nur durch einen Akt der
Loslösung individueller Kräfte von der indiffe-
renzierten Masse des allgemeinen Bewußtseins
entsteht und möglich wird. Gesetzt den Fall,
das gewohnheitsmäßige Handeln, Denken und
Fühlen der Menschen bliebe stets unangefochten
und niemand fiele es ein, es von sich aus neu
zu bestimmen, so käme es auch nie zu einem
geschichtlichen Geschehen. Keine Religion ohne
Ketzer, kein staatliches Leben ohne Widersacher,
aber auch keine Kunstohne die anders wollenden,
andershandelnden starken Persönlichkeiten!

Auch in der Kunst des Mittelalters, so gleich-
förmig sie dem oberflächlichen Blick erscheinen
mag, bestimmen schließlich doch die großen
Einzelnen den Gang des historischen Wer-
dens und Vergehens. Ihre Anonymität spricht
nicht gegen ihr Vorhandensein. Gewaltige Her-
rennaturen müssen es gewesen sein, die in den
Steinen von Chatres und Reims, von Bamberg
und Naumburg letzten Endes sich selber ge-
staltet haben. Auch hier fühlen wir: erst in der
Reibung von Massen- und Einzelbewußtsein
offenbart sich das innere Wesen der Geschichte.
Mit anderen Worten: alles, was wir für über-
lieferungswürdig halten, ist nichts anderes als
die zu einer freien Tat verdichtete Rebellion

des Selbstgefühls wider die Kollektivanschauung
der Zeit. Wenn man will: ein Sündenfall, in-
sofern der selbständige Täter dem Gesamtgeist
widerspricht oder ihm doch zu widersprechen
scheint. Denn betrachtet man das historische
Geschehen aus einer größeren zeitlichen Ferne,
so ist das Verhältnis doch ein anderes.

Nehmen wir ein Beispiel. Im Jahre 1642
schuf Rembrandt das unter dem Namen der
„Nachtwache" bekannte Gemälde der Klove-
niersschützen. Was war gefordert? Eins der
in dem bürgerlichen Holland üblichen Gruppen-
bildnisse, in denen jedes der dargestellten Ver-
einsmitglieder für seine werte Person nicht nur
volle Porträtähnlichkeit, sondern auch einen
guten Platz im Bilde beanspruchen durfte. Das
war für die Auftraggeber das allein Entschei-
dende. Die künstlerischen Belange standen
durchaus nicht im Vordergrunde. Was tat Rem-
brandt? Er kehrte das Verhältnis um. Er malte
ein Bild, dem alle gewünschten Eigenschaften
fehlten und das alle nicht gewünschten besaß.
Ein Bild, in dem Licht und Schatten in einem
magischen Kampfe liegen und die Bildnisfiguren
eigentlich nur Vorwand für die Darstellung einer
malerischen Vision sind. Jeder kennt es und
wird nachsichtig genug sein, die Empörung, die
 
Annotationen