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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 19.1908

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Michel, Wilhelm: Geschmacks-Bildung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7478#0139

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INNEN-DEKORATION

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ENTWURF: OTTO
PRUTSC HER-WIEN.

GESCHMACKS - BILDUNG. Über den schlechten Ge-
schmack des Publikums klagen nicht nur die Kunst-
gewerbe, sondern auch die Geschäftsleute, lefjtere vielleicht
noch lauter und beweglicher als die ersteren, weil sie ihn
täglich vor Augen gerückt bekommen. Und immer auf diese
Klagen folgt die Frage: Wie ist der Geschmack des Publi-
kums zu bilden? In der Regel wird diese Frage mit resig-
niertem Achselzucken beantwortet.

Aber die Sache liegt nicht so verzweifelt. Man muß
sich nur fragen, wie denn der Geschmack, der bekämpft
werden soll, entstanden ist. Wie kommt es überhaupt, dag
die Massen, dag wir selber an bestimmten Dingen Ge-
schmack finden, an anderen nicht? Wegen innerer Vorzüge
auf der einen Seite, wegen klar erkannter Mängel auf der
andern? Es scheint so, denn jedes Geschmacksurteil kann
begründet werden, in der Sprache der Logik und der Ver-
nunft. Man braucht nur an die Mode zu denken. Sind
enge Ärmel modern, so empfiehlt sie die Verkäuferin, weil
sie den Oberarm voll und rund hervortreten lassen. Sind
weite Ärmel begünstigt, so machen sie eine „volle, breite

Figur", und die engen erscheinen daneben ärmlich und
unansehnlich. In beiden Fällen haben wir Begründungen
oder doch wenigstens Bemerkungen, die solchen ähnlich
sehen. Und doch weif} jedes Kind, dag hier keine echten
Begründungen vorliegen. Enge Ärmel empfehlen sich dem
Geschmack, weil man sie oft gesehen hat, und weite Ärmel
empfehlen sich ihm - aus demselben Grunde. Ein voraus-
setjungsloses Urteil gibt es in Geschmacksdingen nicht.
Denn der Geschmack ruht rein auf Gewohnheit. Sein Urteil
sucht sich Gründe, aber es hat keine. So geht es bei
der Mode zu. Sie ist sehr ernsthaft zu nehmen, weil sie,
wie alle spontanen, epidemischen Erscheinungen, aus den
allertiefsten Gründen der menschlichen Seele stammt. Von
der Mode sagt der bekannte Aphorist Otto Weig: Sie hat
eine solche Macht, dag sie sogar vernünftige Dinge in Auf-
nahme bringen kann. Das ist der ganzen Fassung nach als
Scherz gemeint, aber der Verfasser hat wohl auch nicht
die tiefe Wahrheit abgewiesen, die darin steckt.

Diese Wahrheit sich zu nutje machen, darin beruht
das Geheimnis aller Massenerfolge. Alles neue wirkt
 
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