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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 3.1887-1888

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Heilbut, Emil: Über die Kunst in England, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9418#0026

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Uber die Kunst in England

Von Derman Lelserich

I' II c r B Nachdruck verboten

1.

er weiße Kreidefelsen von Dover ragt hoch ans der
Flut onf, nnd moii sieht ihm frendig in dem Gefühl
entgegen, daß die Not der See nnn ein Ende hat. Alle
freuen sich, der Colonel nnd Air. Prigsby, Mr. Jellaby
Postlethwaite, Mr. Tomkyns nnd Mrs. Ponsonby Tom-
kyns, Sir Gorgins Midas wie auch der General aus In-
dien, — sie alle fand ich nämlich auf dem Steamer, der von
Calais nach Dover ging nnd ziemlich schlecht war, mit
Ergötzen wieder, die mir bisher nur im Bilde bekannt
geworden waren, durch die unvergleichlichen, über alles
echten Zeichnungen du Mauriers im Punch. Nie hätte
ich früher dem Gedanken Raum gegeben, daß diese Zeich-
nungen nicht forziert wären, daß der Colonel wirklich so
steif nnd schön sei, daß Ponsonby solche Furchen hätte
und Mr. Gorgins Midas existiere. Aber ich muß nach
dem Augenschein sagen, sie leben, sie sind nicht chargiert,
du Manrier übertrieb nicht im mindesten in der Schil-
derung seiner Landsleute, sie sind so, wie er sie darstellt.
Und ganz vorzüglich ist die Zahmheit seines Stiftes, man
muß es sagen die fast manierierte Zahmheit seines Stiftes,
für die Wiedergabe der englischen obern Zehntausend — ich
sehe es, ich verfolge es an dem Bruchteil von ihnen, der
sich hier auf Deck versammelt hat und emsig nach der
Küste späht, mit dem stolzen Gefühl: das ist unsere
Küste I

Die Misses auf Deck gefallen mir nicht recht; später,
als ich erst ans dem Lande war, sollten sie mir um so
besser gefallen; man muß sich an sie zuerst gewöhnen,
wie an viele andere Dinge der Insel, z. B. die schweren
Speisen und das zu rote Fleisch, während uns die leichte
Küche der Franzosen sofort einleuchtet, mundet und ge-
fallen wird. Diese englischen Mädchen sind ganz ohne
eine Recherche im Benehmen, ohne Koketterie im Anzug,
und wir Männer wollen zunächst beim andern Ge-
schlecht einiges zu sehen bekommen, das mit der Absicht
zu gefallen zur Schau gesetzt wird. Eine kleine Fran-
zösin läuft auf dem Teck herum, der die viel besser ge-
wachsenen Misses scheinbar unterliegen müssen; sie stolziert
wie ein Pfau auf und nieder, die Hände hinten auf der
Tournüre mit einer Nonchalance gekreuzt, die anbetungs-
würdig ist. Man kann das Dämchen durchaus nicht hübsch
heißen, und ihr Mund ist viel zu groß, aber mit der
Grazie in jedem ihrer Tritte, mit dem leichten Öffnen ihrer
roten Lippen (hinter deren Zähnen sie innerlich eine kleine
Chanson zu trällern scheint) und mit der lächelnden Ge-
wißheit ihres Erfolgs über den der Engländerinnen, die
etwas verdrießlich ihre Pfade kreuzen —- mit dem sprühen-
den Leben und Feuer jeder einzelnen Bewegung ihres
winzigen Persönleins bezaubert sie uns alle, die wir auf
Deck sind, den Colonel, den General aus Indien, und
selbst den Steward, der ihr wohlwollend und lächelnd das
faltige Seegesicht zudreht, denn er versteht vollauf, sie zu
würdigen.

Doch wir sind angelangt; statt der hochgehenden
Wellen trägt uns eine fast glatte Wasserfläche. Schon

sind wir innerhalb des Schutzwalls, der ins Meer hin-
ansgebaut ist. Wie herrlich ist der Anblick des Felsens,
wie glänzt seine Weiße in der Sonne, wie schön stehen
die zahllosen weißen Segel gegen den Horizont, und wie
königlich breiten sich die Terrassen von Dover aus, die mit
dichten Menschenmengen besetzt sind. Welch' starker Gegen-
satz zu der französischen Küste bei Calais, die flach und
niedrig ist nnd einen ärmlichen Eindruck machte. Ein
windiger Soldat, pittoresk in seinen roten Hosen und dem
durchgedrückten Standbein, doch mager und düster in
seinem schwärzlichen Teint, stand auf der Platte eines
Walls als Wachtposten ausgestellt, die einzige Erhebung
in der Silhouette des flachen Landstreifs an der Küste —
und hier bauen sich Felsen über Felsen, Häuser über
Häuser auf, und dichte Reihen von uns Erwartenden,
die Lästerallee für die armen Seekranken, steigen auf
den Terrassen amphitheatralisch in die Höhe, Kopf über
Kopf gedrängt im Sonnenscheine. Was Engländer an
Bord ist, blickt mit gerechtem Entzücken ans den Felsen
seiner Heimat nnd auf dieses einzige Schauspiel des in Licht
erstrahlenden Meeres mit den belebenden Segeln seiner
Flotte. Und das Wehen jedes Windes und das Rollen
jeder Welle, die uns mit feierlicher Majestät anfrauschend
dem Lande näher trägt, scheint zu sagen, die Felsen
scheinen es widerznhallen und alle Beiwohnenden in ihrer
Brust es zu fühlen — das stolze Wort, Lritannia rules
tlie vaves.

Die Wagen der Eisenbahn-Kompagnie, die uns nun
aufnehmen, sind von der bequemsten Einrichtung, so breit
in den Sitzen und weit in den Fensteröffnungen, wie in
Deutschland nur bei den Schlafwagen, für die man extra
bezahlt. Mit Vergnügen schauen wir aus den Fenstern
noch eine Weile das Meer und die Strandsammlerinnen
bei Folkestone, dann wendet der Zug sich landeinwärts,
wir kommen ins Grüne, wellige weiche Terrainbtldungen
ergötzen das Auge, in satten Farben prangen die Wiesen,
Gebüsche und Bäume, und mit einer erfreulichen Rasch-
heit sausen wir durch Stationen, an kleinen Städtchen
vorbei, deren Dächer gar freundlich im Sonnenschein
blinken, und deren dampfende Schornsteine auf die wohl-
habendsten Mahlzeiten schließen lassen. Es taucht ein
lieblicher Landsitz nach dem andern auf, es folgen Villen,
dann kleinere Cottages, Arbeiterdörfer mit gleichmäßigen
Dächern und Gärtchen; die Luft wird allmählich schlechter
und dicker, hinten ist es wie eine Dunkelheit am Hori-
zonte, in der Gas gebrannt zu werden scheint; das ist
London, schon hält der Zug; wir sitzen in einer Droschke,
wir fahren auf Asphalt. Riesenwagen mit gelben
Rädern rasseln vorbei, die Kondukteure stehen wie in der
Luft auf kleinen Schilden und rufen unausgesetzt verwor-
rene Namen; merkwürdige Einspänner fliegen vorüber,
deren Kutscher sich hinter dem Wagen befinden, und
vorne sitzen immer die gleichen Herren mit Zylindern und
roten Handschuhen. Das Gewühl der Wagen ist unbe-
schreiblich, wir halten manchmal ganz still, es wird Raum
geschafft; Polizisten mit schwarzen Kopfbedeckungen stehen
in der Mitte der Wege und dirigieren alles mit kleinen
Armbewegungen; Frauen, Kinder sausen über die Straßen-
übergänge mit ängstlicher Eile nach den erhobenen Mittelstücken,


 
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