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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 3.1887-1888

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Kaden, Woldemar: Aus den Gefilden von Sybaris
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https://doi.org/10.11588/diglit.9418#0384

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202

Auf den Gefilden von Sudans*)

von Woldemar Raden

^ine bedeutende Kunde durchflog vor kurzem die ge-
>»- bildete Welt: von Sybaris, der Hauptstadt jener
einst an den süditalischen Küsten mächtig anfblühenden
klaZna Oraecia, soll auf Anordnung der italienischen
Regierung das Leichentuch, das vierundzwanzig Jahr-
hunderte lang das Stadtgebiet deckte, gehoben werden,
auf daß Spätergeborene (wir leider wohl nicht mehr!)
zwischen seinen Mauern, über seine Plätze dahinwandeln,
in seine häuslichen Geheimnisse eindringen können, wie
wir heute, den Bädeker in der Hand, durch die Theater,
Fora und Gräberstraßen Pompejis ziehen, alte Intimi-
täten unter der Lavadecke ausforschend. Mit höherem
Staunen werden jene es thun, denn was Sybaris an
Bau- und Bildwerken und sonstigen Schätzen birgt, mag
zu dem in dem Provinzialstädtchen Pompeji aufgefun-
denen sich Verhalten, wie der Nachlaß eines Krösus zu
dem eines kleinstädtischen Gewürzkrämers.

-r- -r-

*

Wie viel Herrliches hat der schützende Schutt, unsrer
Kunst zum Heil, uns nicht erhalten; wie viele antike
Städte hob unser Jahrhundert ans ihren Gräbern —
man denke an die Ruinen von Halikarnassus, Olympia,
Pergamus, Tiryns, Pompeji u. a. Unsre Zeit hob sie
wieder ans Licht und wieder überstrahlt sie die Sonne
Homers, die dereinst ihnen zur Blüte in einem schönen
Frühlinge verholfen. Die vornehmste Tote, die Helena
unter den Städten, harrt noch ihrer Auferstehung, aber
auch sie soll jetzt auferstehen: Sybaris soll auferstehen.
Wie im vorigen Jahrhunderte die Bourbonen für die
Ausgrabung Pompejis sich interessierten (allerdings mehr
einer mephistophelischen Verheißung auf Schatzgräberei
vertrauend, wo es lautete:

„Wie vieles liegt im Boden still begraben;

Der Boden ist des Kaisers, der soll's haben"),

so beschließt heute aus künstlerisch-historischem, schon oft
von allen Seiten der gebildeten Welt her angeregtem
Interesse die italienische Regierung, die Arbeiten in Sy-
baris zu beginnen. Ein Titanenwerk, das durch die
Kräfte, an Armen und Geldern, der jetzigen Generation
wohl nicht zu Ende geführt und erst unfern Kindern
zu gute kommen wird, dafür aber unter allen archäo-
logischen Unternehmungen unseres in die Tiefe steigenden
Jahrhunderts die vornehmste und bedeutungsvollste.

Und kein Märchen.

Ein Märchen war lebendig geworden und wie ein
Märchen klang vor Jahren der staunenden Welt in die
Ohren die Erzählung von der Entdeckung und den im
Staube aufgesammelten Schätzen um die Priamusfeste
her. Die ganze homerische Sagenwelt lebte mit einemmal
auf; aus dem stummen Boden, über welchen Jahrhunderte
hindurch die Woge der Vergessenheit sich gewälzt, waren
die Helden Griechenlands und Trojas auferstanden, und
die Strahlen der unwandelbaren Sonne, der Sonne, die
in dem Helm Hektors, in dem Schild des Patroklus sich
gespiegelt, blitzten wieder auf dem Goldschmuck, der im

) Am LS. Rov. v. I. haben die Nachgrabungen nach Sybaris thatsSchlich
begonnen. Die obige Plauderei unseres verehrten Mitarbeiters darf daher auf
ein besonderes Interesse unsrer Leser rechnen. D. Red.

grauen Altertum den Schwanenhals der Helena so ver-
führerisch geziert, ihre kleinen Öhrlein gezerrt hatte.

Als der Schleier von der Königsburg des Priamus
gezogen ward, wurde die Sage lebendig; ein griechisches,
von Griechendichtern einst viel besungenes Dornröschen
erdachte aus langem Schlaf. Unter dem Bahrtuch aber,
das die Gefilde von Sybaris deckt, schläft die Geschichte
und hier wird die Geschichte auferstehen. Von Sybaris
haben zwar auch die Poeten gesagt und gesungen, aber
auch die Historiker erzählen mit mathematischer Genauig-
keit die fast wunderbaren Anfänge dieser Stadt, dreiund-
dreißig Jahre nach der Gründung Roms, ihr rasches
Heranwachsen zu ungeahntem Glanze, zu ungeheuerem,
unerhörtem Reichtum, ihre herrliche Kunstblüte, aus welcher
die griechischen und römischen Schulen herausreiften.

Diese Blüte liegt im Schlamme erstickt, im Schlamme
des gemeinsten aller Flüsse, des kalabresischen Crati und
seines nachbarlichen Gehilfen, des Coscile, einst Krathis
und Sybaris.

y- »

-i-

Es ist Hochsommer.

Ich sitze sonnenmüde, hungrig und durstig, von
Fliegen und Sumpfmücken geplagt, in einer räuberhaften,
von einem fieberkranken Wirte besorgten Spelunke am Wege,
der am obern Rande der sybaritischen Sumpfebene fick hin-
zieht. Ein paar verkrüppelte Ölbäume werfen einen dünnen,
flirrenden Schatten. Vor mir, zum jonischen Meer hinüber,
dehnt sich die vier deutsche Geviertmeilen große Ebene,
das einstige Stadtgebiet von» Sybaris, sonnenverbrannt,
braun, grau, gelb, dann purpurfarben, leblos und un-
belebt, denn die Herden, die im Winter zur Weide hier-
hergeführt werden, sind längst zur Sommerung auf die
Berge hinaufgestiegcn. Keines Menschen Fuß verirrte sich
jetzt mehr auf sie, denn über ihr schwingt der Todesengel
Malaria seine bleiernen Flügel. Ein trostloser, herz-
bedrückender Anblick.

Auch der Crati ist ein freudeloser Fluß und das
Thal, das er durchirrt, ist traurig und öde. Ein dichter
Schilswald füllt es in der Mitte, inmitten dieses kriecht
der Fluß träge dahin. Hier und da verschwinden die
schmutzigen Wasser in dem die Ufer deckenden, von der
Sommersonne gedörrten Schlamm. Oder die Schlamm-
kruste ist gesprungen, und in den tiefen Spalten steht, wie
geronnen Blut in den Wunden, das rötlich-trübe Sumpf-
wasser, wo der Büffel Erquickung sucht. Die Berge da-
hinter sind rauh und ungastlich, von gelber, verbrannter
Farbe.

Hier ist das Wasser trübe und trübt sich mehr und
mehr, je näher es der Mündung kommt, und ist so dick,
daß immer eine runzelige, metallisch gefärbte Haut, die sich
in dicken Falten zusammenschiebt, darauf schwimmt. Sein
Lauf ist so schwach, daß es das Meer kaum erreichen
kann. Dafür geht der Fluß, sein Bett fast alljährlich wechselnd,
mehr und mehr in die Breite. Langsam schieben nach-
drängende Fluten den dicken Schlammbrei zwischen grauen
Schlammdünen vor sich hin. Oft verschluckt die Erde
seine letzten Wasser.

Dieses Mündungsland ist eine Stätte des Todes:
Blumen, Bäume, Vögel und alle Thiere fliehen es, selbst
 
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